Die Bestien von Belfast
wenn nicht. Selbst der Chief Constable interessiert sich jetzt persönlich für dich. Hättest du bloß nicht deine große Nase in alles reingesteckt … hättest du bloß nicht … hättest du nicht … hättest du …
Und dann begriff er so klar und deutlich, dass ihm fast der Atem stockte. Er sah die schreckliche Szene vor sich, wie Jenny mit einem blutigen Finger die Buchstaben » IF « auf den Boden schrieb. Was, wenn es sich dabei nicht um irgendeine Abkürzung handelte, sondern um einen Namen, oder besser gesagt, die Initialen eines Namens? I. F.
Und da fiel ihm wieder ein, wo er den Chief Constable gesehen hatte, vielmehr dessen Gesicht: an einer uralten Wand, vor wenigen Wochen inmitten einer veritablen Schurkengalerie. Woodbank. Ian Finnegan war einer der ehemaligen Direktoren.
In diesem Moment riss ihn Naomi aus seinen Gedanken. »Das lag für dich auf dem Flur«, sagte sie und reichte ihm einen Brief.
»Noch eine Rechnung?«
»Nein … das Krankenhaus«, flüsterte sie besorgt.
»Lass ihn auf dem Tisch liegen. Ich öffne ihn später. Heute ist mir nicht danach, meine Briefe zu öffnen.«
»Karl, Süßer, öffnen wir ihn doch gleich. Wenn du …«
»Herrgott noch mal! Bist du taub, oder was? Leg ihn einfach hin!«
Ein paar Sekunden später stürmte Karl aus dem Zimmer, und Naomi sah bestürzt den braunen Briefumschlag an.
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Kapitel Fünfunddreißig
Montag, 12 .März
»In des Herzens Wüsten lass Quellen strömen heilend Nass, In der Tage Kerker lehr Freien Mann das Wort: ich ehr.« W. H. Auden,
Zum Gedenken an W. B. Yeats
Karl näherte sich dem Pflegeheim so zögerlich wie ein verurteilter Häftling dem Galgen. Er wartete auf die Gerüche, die ihm den Magen umdrehen würden: Urin, Exkremente, verkochtes Essen und, am unerträglichsten, Einsamkeit.
Der Mann starrte die Wand an, als Karl das Zimmer betrat, ohne anzuklopfen. Er war ein großer, jedoch hagerer Hüne, dessen einziges nennenswertes Fleisch Wülste am Hals zu bilden schien. Zwischen den vertikalen Linien der zusammengekniffenen Lippen steckte eine nicht angezündete Zigarette ohne Filter.
»He, Dad«, sagte Karl, berührte seinen Vater am Arm und stellte eine große Tüte Obst auf den Tisch an der Wand.
Cornelius Kane beachtete die Berührung nicht, nahm aber die Zigarette aus dem Mund, um zu sprechen.
»Endlich lässt du dich wieder mal blicken. Muss jetzt über ein Jahr her sein. Wenn du mich nicht besuchen willst, dann lass es. So einfach ist das.«
»Ich war letzte Woche hier«, sagte Karl.
»Tatsächlich? Sagst du diesmal auch die Wahrheit? Als du letztes Mal hier warst, hast du nichts als Lügen erzählt.«
»Natürlich sage ich die Wahrheit. Ich bin jeden Montag hier, Dad. Das weißt du doch. Nach mir könnte man die Uhr stellen.«
»Ob mir Uhren fehlen? Das ist eine ausgezeichnete Frage. Natürlich – meine zumindest. Jemand hat sie mir gestern gestohlen.«
»Niemand hat sie gestohlen, Dad. Sie ist schon seit Jahren fort. Du hast sie in dem alten Haus gelassen.« Dem Haus von Mord und Blut.
Cornelius gab einen Schnalzlaut von sich, eine Warnung an Karl, keine harten Tatsachen infrage zu stellen.
»Ich weiß, wer sie gestohlen hat. Aber keine Bange, ich habe einen Plan, wie ich sie wiederbekomme.« Cornelius wandte Karl den Rücken zu und ging zu dem einzigen Fenster des winzigen Raumes; er trug nur Socken an den Füßen und bewegte sich lautlos.
Sein schlurfender Gang hatte den Boden über die Jahre stumpf und glanzlos gemacht, sodass das Parkett wie unbehandelt aussah.
»Gib mir Feuer«, verlangte Cornelius und steckte die Zigarette in den Mund.
»Du sollst nicht rauchen, Dad. Außerdem habe ich kein Feuer. Ich habe das Rauchen aufgegeben. Und ich habe dir einen Haufen Obst gekauft. Das ist viel gesünder für dich.«
»Wer sagt, dass ich nicht rauchen soll? Hat dir das deine Mutter wieder eingeflüstert?«
»Die Ärzte.«
»Ärzte? Pah! Was wissen die Quacksalber schon? Ich lebe überhaupt nur noch, weil ich all die Jahre geraucht habe.« Cornelius steckte die Zigarettenschachtel ins Hemd und fuhr dann zweimal über die Tasche, als wollte er sich vergewissern, dass die Packung wirklich noch da war. »Und bring mir nicht ständig Obst. Ich sage dir immer wieder, dass ich davon die Scheißerei kriege. Mein Arsch ist schon ganz wund wegen dir und deinem verdammten Obst!«
»Okay. Wie du willst. Kein Obst mehr.«
»Kannst du nicht wenigstens die verdammten Schuhe ausziehen?«, fauchte
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