Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
mit ihren Berichten nichts als Ärger. Und das ist noch längst nicht alles. Da kommt noch mehr, das kann ich euch versichern.«
Ich sollte jetzt still sein, aber ich kann nicht anders. » Warum machen die so etwas?«, platze ich heraus.
» Weshalb hörst du nicht einfach deinem Vater zu, Beatrice?«, fragt meine Mutter sanft. Es klingt wie ein Vorschlag, nicht wie ein Befehl. Ich schaue über den Tisch zu Caleb, der mich missbilligend anblickt.
Verlegen starre ich auf meine Erbsen. Ich weiß nicht, ob ich dieses Leben mit seinen vielen Pflichten und Regeln noch länger ertragen kann. Ich bin nicht gut genug dafür.
» Ich werde dir den Grund nennen«, sagt mein Vater. » Sie tun es, weil wir etwas haben, um das sie uns beneiden. Wenn man wie die Ken Wissen über alles stellt, dann endet es unweigerlich in einer Gier nach Macht, und das führt die Menschen in dunkle Abgründe. Wir sollten dankbar sein, dass wir es besser wissen.«
Ich nicke. Die Ken kommen für mich nicht infrage, obwohl meine Testergebnisse diese Möglichkeit nicht ausschließen. Immerhin bin ich die Tochter meines Vaters.
Nach dem Essen spülen meine Eltern das Geschirr. Sie lassen sich dabei nicht einmal von Caleb helfen, denn heute Abend sollen wir uns mit uns selbst beschäftigen. Statt uns im Familienzimmer zu versammeln, sollen wir in Ruhe über unsere Testergebnisse nachdenken.
Meine Eltern könnten mir vielleicht bei meiner Entscheidung helfen, wenn ich mit ihnen über mein Ergebnis sprechen dürfte. Aber ich darf es ja nicht. Jedes Mal, wenn mein Entschluss, den Mund zu halten, ins Wanken gerät, höre ich im Geiste Toris geflüsterte Warnung.
Caleb und ich steigen die Treppe hinauf. Bevor jeder in sein eigenes Schlafzimmer geht, legt er mir die Hand auf die Schulter und hält mich zurück.
» Beatrice«, sagt er und sieht mich ernst an. » Wir sollten an unsere Familie denken.« Er klingt angespannt. » Aber… aber wir müssen auch an uns denken.«
Verwundert sehe ich ihn an. Ich habe noch nie erlebt, dass er an sich gedacht hat, habe noch nie gehört, dass ihm etwas anderes wichtiger wäre als Selbstlosigkeit. Seine Bemerkung verblüfft mich dermaßen, dass ich nur das erwidere, was man von mir erwartet. » Die Testergebnisse sollen uns nicht in unserer Entscheidung beeinflussen.«
Caleb lächelt matt. » Tatsächlich nicht?«
Er drückt meine Schulter und geht in sein Zimmer. Durch den Türspalt sehe ich sein ungemachtes Bett und einen Stapel Bücher auf seinem Schreibtisch. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass wir das Gleiche durchmachen. Ich wünschte, ich könnte mit ihm sprechen, wie ich will, und nicht, wie ich soll. Aber der Gedanke, ihm mein Gefühl der Hilflosigkeit zu offenbaren, ist fast unerträglich, deshalb wende ich mich ab.
Als ich meine Zimmertür hinter mir schließe, denke ich plötzlich, dass die Wahl vielleicht gar nicht so schwer ist. Mich für die Altruan zu entscheiden, verlangt von mir einen Akt der Selbstlosigkeit; umgekehrt erfordert es von mir großen Mut, mich für die Ferox zu entscheiden. Morgen werden beide Eigenschaften– Selbstlosigkeit und Mut– gegeneinander antreten, morgen kann nur eine den Sieg davontragen. Und vielleicht bedeutet ja allein meine Entscheidung für eine dieser beiden Eigenschaften, dass ich wirklich zu der Fraktion gehöre, deren hauptsächliche Tugend sie ist.
5 . Kapitel
Der Bus, mit dem wir zur Zeremonie der Bestimmung fahren, ist voller grau gekleideter Menschen. Durch die Wolken dringt eine fahle Sonne wie das Ende einer angebrannten Zigarette. Ich werde niemals rauchen– rauchen ist eitel–, aber als wir aus dem Bus aussteigen, stehen ein paar Candor da und ziehen an ihren Zigaretten. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, wenn ich die Spitze der Zentrale sehen will, doch heute ist ein Teil des Gebäudes von den Wolken verborgen. Es ist das höchste Bauwerk der Stadt. Die beiden Lichter auf seinem Dach sehe ich sogar vom Fenster meines Schlafzimmers.
Ich steige hinter meinen Eltern aus dem Bus. Caleb wirkt völlig gelassen. Das wäre ich auch, wenn ich wüsste, was ich tun soll. Stattdessen habe ich das beklemmende Gefühl, dass mir das Herz gleich aus der Brust springt. Ich fasse Calebs Arm, um mich daran festzuhalten, während wir die Eingangsstufen hinaufgehen.
Der Fahrstuhl ist überfüllt, weshalb mein Vater freiwillig einer Gruppe von Amite seinen Platz abgibt und stattdessen die Treppe nimmt. Wir folgen ihm ohne Widerspruch und geben den
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