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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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anderen aus unserer Fraktion damit ein Beispiel. Bald sind wir von einem Heer grau gekleideter Menschen umringt, die mit uns im Schummerlicht die Zementtreppen hinaufsteigen. Ich passe mich dem Tempo der anderen an. Die gleichförmigen Schritte und die Uniformität der Menschen um mich herum gaukeln mir vor, ich könnte mich für diese Fraktion entscheiden, mich der bienengleichen Disziplin der Altruan unterordnen und stets nur an andere denken.
    Aber dann werden meine Beine schwer, ich ringe nach Luft, und schon wieder kreisen meine Gedanken nur um mich selbst. Wir müssen zwanzig Stockwerke hinauf, um zur Zeremonie der Bestimmung zu gelangen.
    Im zwanzigsten Stockwerk angekommen, bleibt mein Vater wie ein Wächter stehen und hält die Tür auf, während die Altruan in einer langen Reihe an ihm vorbeigehen. Ich will auf ihn warten, aber die Menge schiebt mich weiter, aus dem Treppenhaus in den Saal, in dem ich über mein künftiges Leben entscheiden werde.
    Der Raum ist in konzentrische Kreise aufgeteilt. An den Wänden stehen die Sechzehnjährigen. Noch sind wir keine offiziellen Mitglieder einer Fraktion. Unsere heutige Entscheidung macht uns zu Initianten, und erst wenn wir die Initiation abgeschlossen haben, gelten wir als vollwertige Mitglieder.
    Nach unseren Nachnamen geordnet, die wir heute vielleicht zum letzten Mal tragen, stellen wir uns in alphabetischer Reihenfolge auf. Ich stehe zwischen Caleb und Danielle Pohler, einem Amite-Mädchen mit rosigen Wangen und einem gelben Kleid.
    Im Kreis vor uns stehen die Stuhlreihen für die Familienangehörigen. Sie sind in fünf Abschnitte unterteilt, ein Abschnitt für jede Fraktion. Nicht alle Mitglieder einer Fraktion nehmen an der Zeremonie teil, aber es sind so viele, dass der Saal voll ist.
    Jedes Jahr ist eine andere Fraktion für die Zeremonie verantwortlich. In diesem Jahr sind es die Altruan. Marcus wird die Eröffnungsrede halten und die Namen in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge vorlesen. Caleb ist also vor mir dran.
    Im innersten Kreis stehen fünf Metallschalen. Sie sind so groß, dass ich ganz hineinpassen würde, wenn ich mich zusammenrolle. In jeder befindet sich eine Substanz, die typisch für die jeweilige Fraktion ist: graue Steine für Altruan, Wasser für Ken, Erde für Amite, brennende Kohlen für Ferox und Glas für Candor.
    Wenn Marcus meinen Namen aufruft, werde ich wortlos in die Mitte der drei Kreise gehen. Er wird mir ein Messer geben. Damit werde ich mir in die Hand schneiden und mein Blut in die Schale der Fraktion tropfen lassen, für die ich mich entscheide.
    Mein Blut, das auf Steine fällt. Mein Blut, das auf Kohlen zischt …
    Bevor meine Eltern ihren Platz einnehmen, bleiben sie vor Caleb und mir stehen. Mein Vater küsst mich auf die Stirn und klopft Caleb grinsend auf die Schulter.
    » Bis später, mein Sohn«, sagt er gut gelaunt. Er hat nicht die Spur eines Zweifels.
    Meine Mutter umarmt mich, und das bisschen Entschlossenheit, das ich mir bewahren konnte, schwindet dahin. Ich beiße die Zähne zusammen und starre an die Decke, wo Kugellampen ein blaues Licht ausstrahlen. Meine Mutter umarmt mich ungewöhnlich lang, sie hält mich selbst dann noch fest, als ich meine Hände sinken lasse. Ehe sie mich freigibt, flüstert sie mir ins Ohr: » Ich liebe dich, egal, was passiert.«
    Verwirrt sehe ich zu, wie sie weggeht. Sie ahnt, was ich vorhabe. Sie weiß es, sonst hätte sie das nicht gesagt.
    Caleb nimmt meine Hand und drückt sie so fest, dass es wehtut, aber ich wehre mich nicht dagegen. Das letzte Mal hielten wir uns an den Händen, als mein Onkel begraben wurde und mein Vater weinte. Genau wie damals braucht jetzt jeder von uns die Kraft des anderen.
    Langsam kehrt Ruhe in den Saal ein. Ich müsste eigentlich die Ferox beobachten, um so viel wie möglich über sie zu erfahren, aber ich sehe nur die Lampen über mir. Ich versuche, mich selbst in ihrem blauen Licht zu vergessen.
    Marcus steht auf einem Podium, das zwischen den Ken und den Ferox aufgebaut ist, und räuspert sich ins Mikrofon. » Willkommen«, sagt er. » Willkommen zur Zeremonie der Bestimmung. Willkommen zu dem Ereignis, mit dem wir die demokratischen Grundsätze unserer Vorfahren ehren, die uns lehren, dass jeder Mensch das Recht hat, für sich selbst den Weg zu wählen, den er beschreiten will.«
    Genauer gesagt, einen von fünf vorgegebenen Wegen, denke ich im Stillen. Ich drücke Calebs Finger so fest, wie er zuvor meine gedrückt hat.
    » Unsere

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