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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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sich weiterzugehen. Als er in der Mitte steht, gleitet sein Blick von der Schale der Ferox zur Schale der Candor– von den gelbroten Flammen, die mit jeder Sekunde höher auflodern, hin zum Glas, in dem sich das blaue Licht widerspiegelt.
    Marcus reicht ihm das Messer. James holt tief Luft– ich sehe, wie sich sein Brustkorb hebt–, und als er ausatmet, nimmt er das Messer. Dann zieht er es mit einem schnellen Ruck über seine Handfläche und streckt den Arm zur Seite. Sein Blut tropft auf das Glas. Er ist der Erste, der sich für eine andere Fraktion entscheidet. Der erste Wechsel. Unter den Ferox erhebt sich empörtes Gemurmel, aber ich halte den Kopf gesenkt und achte nicht darauf.
    Von jetzt an werden sie ihn als Verräter behandeln. Seine Ferox-Familie wird ihn in eineinhalb Wochen am Besuchertag in seiner neuen Fraktion besuchen können, aber sie werden nicht hingehen, weil er sie im Stich gelassen hat. Sein Fehlen wird durch ihre Flure geistern, und er wird eine Lücke hinterlassen, die sie nicht füllen können. Doch die Zeit wird vergehen, und die Lücke wird sich schließen, wie wenn man einem Körper ein Organ entnimmt und die Körperflüssigkeiten die leere Stelle allmählich wieder füllen. Menschen können die Leere nicht lange ertragen.
    » Caleb Prior«, ruft Marcus.
    Caleb drückt mir ein letztes Mal die Hand und setzt sich in Bewegung. Im Weggehen wirft er mir einen langen Blick über die Schulter zu. Ich sehe, wie seine Füße auf die Mitte des Raums zusteuern, seine Hände sind ruhig, als er das Messer von Marcus entgegennimmt. Geschickt schneidet er sich in die Hand. Dann steht er da, das Blut sammelt sich in seiner hohlen Hand, er nagt an seiner Unterlippe, wie so oft.
    Er atmet aus. Er atmet ein. Und dann hält er seine Hand über die Schale der Ken. Sein Blut tropft in das Wasser und färbt es noch eine Spur röter.
    Das einsetzende Raunen in unseren Reihen schwillt zu wütendem Protest an. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ausgerechnet mein Bruder, mein selbstloser Bruder, ausgerechnet er wechselt zu einer anderen Fraktion? Mein Bruder, wie geschaffen für die Altruan, wird ein Ken?
    Als ich die Augen schließe, sehe ich den Bücherstapel auf Calebs Schreibtisch vor mir, sehe, wie er seine zitternden Hände nach dem Eignungstest an den Beinen abwischt. Gestern noch hat er mir gesagt, man müsse auch an sich selbst denken. Wieso habe ich nicht gemerkt, dass er sich diesen Rat auch selbst gab?
    Ich schaue zu den Ken hinüber– sie lächeln selbstgefällig und knuffen sich mit den Ellenbogen. Die sonst so gelassenen Altruan flüstern aufgeregt und starren quer durch den Raum zu der Fraktion, mit der wir seit Kurzem verfeindet sind.
    » Wenn ich bitten darf…«, sagt Marcus, aber die Menge hört nicht auf ihn. Dann ruft er laut: » Ruhe, bitte.«
    Im Raum wird es still, bis auf ein seltsames Klingeln, das ich nicht zuordnen kann.
    Dann höre ich meinen Namen. Ein Schaudern durchläuft mich und mein Körper setzt sich wie von selbst in Bewegung. Auf halbem Weg zu den Schalen bin ich sicher, dass ich die Altruan wählen werde. Ich sehe alles klar vor mir. Ich sehe, wie ich zu einer grau gekleideten Frau werde und Susans Bruder Robert heirate, wie ich an den Wochenenden als Freiwillige arbeite, tagein, tagaus in friedlicher Gleichförmigkeit lebe, ruhige Abende vor dem Ofen verbringe, in der angenehmen Gewissheit, geborgen zu sein. Möglicherweise werde ich auch dann nicht gut genug sein, aber mit Sicherheit besser als heute.
    Das Klingeln. Erst jetzt fällt mir auf, dass es nur in meinen Ohren ist.
    Ich blicke zu Caleb hinüber, der hinter seiner neuen Fraktion steht. Er erwidert meinen Blick und nickt fast unmerklich, als wisse er genau, was mir gerade durch den Kopf geht, und als wolle er mich darin bestärken. Meine Schritte stocken. Wenn selbst Caleb sich nicht für die Altruan entschieden hat, wie kann ich mich dann für sie entscheiden? Aber habe ich denn überhaupt eine Wahl, jetzt, da er uns verlassen hat und ich die Einzige bin, die noch übrig ist? Caleb hat mir keinen anderen Ausweg gelassen.
    Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen. Ich werde das Kind sein, das bei seinen Eltern bleibt; ich muss es für meine Eltern tun. Ich muss.
    Marcus reicht mir ein Messer. Ich blicke ihm in die Augen– sie sind tiefblau, von einer seltsamen Farbe– und nehme es aus seiner Hand entgegen. Er nickt und ich wende mich den Schalen zu. Das Feuer der Ferox und die Steine der Altruan

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