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Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung

Titel: Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Roth
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verteilen uns über die Michigan Avenue. Südlich der Brücke ist die Michigan Avenue eine geschäftige Straße, auf der es von Menschen nur so wimmelt, aber hier ist sie öde und verlassen.
    Als ich hochblicke und die Gebäude mustere, weiß ich mit einem Mal, wo wir hinwollen: zum leer stehenden Hancock Building, dem höchsten Gebäude nördlich der Brücke, das von Weitem wie ein riesiger schwarzer Pfeiler mit vielen Querstreben aussieht.
    Aber was sollen wir da? Doch nicht etwa hinaufklettern?
    Als wir näher kommen, fangen die Älteren zu rennen an, und Uriah und ich rennen mit, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie rempeln sich gegenseitig mit den Ellbogen an, als sie durch mehrere Türen im Erdgeschoss drängeln. Das Glas einer der Türen ist zersplittert, sie besteht nur noch aus dem Türrahmen. Ich steige hindurch, statt sie zu öffnen, und folge den anderen in die düstere, ein wenig unheimliche Eingangshalle. Die Scherben unter meinen Füßen knirschen.
    Ich rechne fast damit, dass wir die Treppen nehmen, aber wir bleiben vor den Aufzügen stehen.
    » Funktionieren die Aufzüge?«, frage ich Uriah so leise wie möglich.
    » Natürlich«, antwortet Zeke und verdreht die Augen. » Glaubst du, ich bin so blöd, hierherzukommen, ohne vorher die Notstromversorgung eingeschaltet zu haben?«
    » Ja, das glaube ich«, antwortet Uriah.
    Zeke wirft seinem Bruder einen bösen Blick zu, dann nimmt er ihn in den Schwitzkasten und fährt mit den Knöcheln über Uriahs Kopf. Zeke mag kleiner als Uriah sein, aber bestimmt ist er stärker oder wenigstens schneller. Uriah boxt ihm in die Seite und Zeke lässt ihn los.
    Ich muss grinsen, als ich Uriahs zerzaustes Haar sehe, aber da gehen schon die Aufzugtüren auf. Wir steigen hinein, die Älteren in die eine Kabine, die Initianten in die andere. Ein glatzköpfiges Mädchen tritt mir auf die Füße, ohne sich zu entschuldigen. Ich fasse nach meinem Fuß und überlege, ob ich ihr ans Schienbein treten soll. Uriah betrachtet sein Spiegelbild in der Aufzugtür und streicht sich die Haare glatt.
    » Welches Stockwerk?«, fragt das Mädchen mit der Glatze.
    » Hundert«, antworte ich.
    » Woher willst ausgerechnet du das wissen?«
    » Lynn, komm schon, sei ein bisschen netter«, sagt Uriah.
    » Wir sind zusammen mit anderen Ferox in einem verlassenen hundertstöckigen Gebäude«, kontere ich. » Da kann man sich das doch denken.«
    Sie sagt kein Wort, aber sie drückt mit dem Daumen den richtigen Knopf.
    Der Aufzug saust mit solcher Schnelligkeit nach oben, dass sich mein Magen zusammenzieht und es in meinen Ohren knackt. Wir sind im zwanzigsten, dreißigsten Stockwerk– Uriahs Haare sind endlich glatt. Fünfzig, sechzig– meine Zehen tun nicht mehr weh. Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert– der Aufzug bleibt stehen. Ich bin froh, dass wir nicht die Treppen genommen haben.
    » Ich frage mich, wie wir hinaus aufs Dach kommen…« Uriah verstummt.
    Ein heftiger Wind schlägt uns entgegen und bläst mir die Haare ins Gesicht. In der Decke des hundertsten Stockwerks klafft ein großes Loch. Zeke lehnt eine Aluminiumleiter daran und klettert hinauf. Die Leiter knarrt und schwankt unter seinen Füßen, aber er klettert weiter und pfeift dabei. Auf dem Dach angekommen, dreht er sich um und hält die Leiter von oben für den Nächsten fest.
    Einen Moment lang frage ich mich, ob dies ein Selbstmordkommando ist, getarnt als Spiel.
    Aber es ist nicht das erste Mal seit der Zeremonie der Bestimmung, dass ich mir diese Frage stelle.
    Ich steige hinter Uriah die Leiter hoch und denke daran zurück, wie ich die Speichen des Riesenrads hochgeklettert bin und Four mir auf den Fersen folgte. Ich denke daran, wie er die Finger auf meine Hüften legt, wie er mich vor dem Herabstürzen rettet… und trete fast neben eine Leitersprosse. Echt dämlich.
    Ich beiße mir auf die Lippe, und dann habe ich es endlich bis nach oben geschafft und stehe auf dem Dach des Hancock Building.
    Der Wind pfeift so stark, dass ich nichts anderes höre oder fühle. Ich muss mich an Uriah anlehnen, um nicht umgerissen zu werden. Unter uns erstreckt sich die Sumpflandschaft, riesig, braun, überall, sie reicht bis an den Horizont, nirgendwo ein Zeichen von Leben. In der anderen Richtung liegt die Stadt, und in mancher Hinsicht ist sie ähnlich leblos, und auch ihre Grenzen kenne ich nicht.
    Uriah deutet auf etwas. An einem Pfeiler auf dem Dach des Gebäudes ist ein Stahlseil angebracht, so dick wie mein

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