Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
nicht mehr an ihn, nicht mehr an Uriah und meine Familie und an all das, was nicht funktionieren und meinen Tod bedeuten könnte. Ich höre Metall auf Metall knirschen und spüre den beißenden Wind, dass mir die Tränen in die Augen schießen, während ich nach unten rase.
Ich habe das Gefühl, schwerelos zu sein. Das Marschland vor mir sieht unermesslich groß aus, die braune Fläche erstreckt sich so weit, dass ich nicht einmal aus dieser Höhe sehe, wo es aufhört. Die Luft ist kalt, sie pfeift so heftig, dass mein Gesicht zu stechen beginnt. Ich werde immer schneller, ich will vor Begeisterung schreien, doch daran hindert mich der Wind, kaum dass ich den Mund aufmache.
Fest und sicher in den Gurten hängend, strecke ich die Arme zur Seite und bilde mir ein zu fliegen. Ich rase auf die Straße zu, die rissig und ausgebessert ist und sich am Rande des Marschlands entlangzieht. Von hier oben aus kann ich mir vorstellen, wie es ausgesehen hat, als dort noch ein See war, ein bisschen wie flüssiger Stahl, in dem sich die Farbe des Himmels widerspiegelt.
Mein Herz klopft so wild, dass es wehtut. Ich kann nicht schreien und nicht atmen, aber ich spüre alles, jede Ader, jede Faser, jeder Knochen, jeder Nerv, alles vibriert, mein Körper ist wie elektrisch aufgeladen. Ich bin vollgepumpt mit Adrenalin.
Der Boden wird größer, er rast auf mich zu, ich sehe winzige Menschen unten auf der Straße stehen. Eigentlich müsste ich schreien, wie es jeder vernünftige Mensch tun würde, aber als ich den Mund aufmache, kommt nur ein überschwängliches Krächzen heraus. Ich schreie lauter, und die Menschen unten recken die Fäuste und rufen zurück, aber sie sind so weit weg, dass ich sie kaum höre.
Unter mir verschwimmt alles in Grau und Weiß und Schwarz, Glas, Straßenpflaster, Stahl. Windranken, geschmeidig wie zarte Strähnen, schlingen sich um meine Finger und biegen meine Arme nach hinten. Ich will die Arme an die Brust ziehen, aber mir fehlt die Kraft dazu. Die Welt unter mir wird größer und größer.
Mindestens eine weitere Minute fliege ich wie ein Vogel auf gleicher Höhe über die Erde hinweg.
Als ich schließlich langsamer werde, fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar. Der Wind hat es so zerzaust, dass es verknotet ist. Ich hänge ungefähr zwanzig Fuß über dem Boden, aber diese Höhe kommt mir jetzt ganz unbedeutend vor. Ich greife hinter mich und nestle an den Gurten herum. Meine Finger zittern, aber es gelingt mir trotzdem, die Gurte zu lockern. Unter mir hat sich eine Schar Ferox versammelt. Sie fassen sich gegenseitig an den Händen und spannen ein Netz aus Armen.
Wenn ich wieder sicheren Boden unter den Füßen haben will, muss ich darauf vertrauen, dass sie mich auffangen. Das schaffe ich nur, wenn ich mir eingestehe, dass sie jetzt meine Leute sind und ich zu ihnen gehöre. Und das erfordert mehr Mut, als an einer Seilrutsche in die Tiefe zu gleiten.
Ich winde mich aus der Schlinge und lasse mich fallen. Ich schlage hart auf. Handgelenke und Unterarme bohren sich in meinen Rücken, dann fassen Hände mich an den Armen und stellen mich auf die Beine. Ich weiß nicht, wessen Hände mich halten und wessen Hände nicht. Ich sehe die Leute grinsen und lachen.
» Und? Was sagst du jetzt?«, fragt Shauna und klopft mir auf die Schulter.
» Hm…« Die Ferox schauen mich an. Sie alle sehen genauso durchgerüttelt aus, wie ich mich fühle, der Adrenalinkick spiegelt sich noch in ihren Blicken und ihre Haare sind zerzaust. Jetzt weiß ich, warum mein Vater die Ferox immer als eine Bande von Verrückten bezeichnet hat. Er hat diese besondere Form des Zusammenhalts nicht verstanden– konnte ihn nicht verstehen–, der sich nur einstellt, wenn man gemeinsam sein Leben riskiert hat.
» Wann kann ich wieder rauf?« Ich grinse so breit, dass man meine Zähne sieht, und als sie lachen, lache ich mit. Ich denke daran, wie wir bei den Altruan die Treppen hinaufgestiegen sind, unsere Füße im Gleichtakt, einer wie der andere. Das hier ist etwas ganz anderes. Wir sind nicht einer wie der andere und doch sind wir eins.
Ich blicke zum Hancock Building hinüber, das jetzt so weit weg ist, dass ich die Leute auf dem Dach nicht sehen kann.
» Schaut! Da kommt er!«, ruft jemand und zeigt über meine Schulter. Ich folge der Richtung, in die der ausgestreckte Finger zeigt, zu einem kleinen, dunklen Flecken, der an dem Stahlseil entlangrutscht. Ein paar Sekunden später höre ich einen schrillen Schrei.
» Ich
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