Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
hinauf. Dort steht eine Tür offen, durch die Tageslicht hereinfällt. Wir sind nur ein paar Hundert Yards von dem Glasgebäude über der Grube entfernt, ganz nahe bei den Eisenbahnschienen.
Ich habe das Gefühl, als hätte ich das schon tausendmal gemacht. Ich höre den Zug tuten. Ich spüre, wie der Boden zittert. Ich sehe das Licht vorne am Triebwagen. Ich lasse meine Fingergelenke knacken und wippe einmal auf den Zehenspitzen.
Wie eine geschlossene Meute laufen wir neben den Waggons her und springen gleich zu mehreren hinein, ältere Feroxund Initianten nebeneinander. Uriah springt vor mir auf, hinter mir drängeln sich schon die Nächsten. Ich darf jetzt nichts falsch machen. Ich werfe mich zur Seite, greife nach dem Türgriff und ziehe mich in den Wagen. Uriah packt mich am Arm, um mir Halt zu geben.
Der Zug wird schneller. Uriah und ich setzen uns und lehnen uns an die Waggonwand.
Ich schreie, um den Fahrtwind zu übertönen: » Wohin fahren wir?«
Uriah zuckt mit den Schultern. » Das hat Zeke mir nicht verraten.«
» Zeke?«
» Mein älterer Bruder.« Er zeigt auf einen Jungen, der am Eingang sitzt und die Beine aus dem Wagen baumeln lässt. Er ist klein und schlank, und er hat, abgesehen von seiner Hautfarbe, keinerlei Ähnlichkeit mit Uriah.
» Das wirst du auch nicht erfahren. Das verdirbt die Überraschung!«, ruft das Mädchen, das rechts von mir sitzt. Sie streckt die Hand aus. » Ich bin Shauna.«
Ich schüttle ihre Hand, aber ich drücke sie nicht fest genug und lasse viel zu schnell wieder los. Ich glaube nicht, dass ich jemals gut Hände schütteln kann. Es kommt mir unnatürlich vor, die Hände eines Fremden zu ergreifen.
» Ich bin…«, setze ich an, aber da fällt sie mir schon ins Wort.
» Ich weiß, wer du bist. Du bist die Stiff, von der Four erzählt hat.«
Meine Wangen beginnen zu glühen, ich kann nur hoffen, dass man es mir nicht ansieht. » Ach? Was hat er denn gesagt?«
Sie grinst mich an. » Nur dass du eine Stiff bist. Warum fragst du?«
» Wenn mein Ausbilder über mich redet«, sage ich leicht entrüstet, » dann will ich wissen, was er sagt.« Ich hoffe, meine Lüge klingt überzeugend. » Er kommt doch nicht etwa mit, oder?«
» Nein. Bei solchen Sachen macht er nicht mit«, antwortet Shauna. » Das reizt ihn vermutlich nicht mehr. Er fürchtet sich vor beinahe gar nichts, weißt du.«
Er kommt also nicht mit. Meine innere Spannung löst sich auf wie entweichende Luft aus einem Ballon. Ich versuche, nicht darauf zu achten, und nicke zustimmend. Ich weiß genau, dass Four kein Feigling ist. Aber ich weiß auch, wovor er sich fürchtet: vor der Höhe. Was auch immer wir machen werden, es muss etwas hoch oben sein, und dem will er aus dem Weg gehen. Wenn Shauna mit solcher Ehrfurcht von ihm spricht, dann weiß sie das sicherlich nicht.
» Kennst du ihn gut?« Ich bin zu neugierig, war es schon immer.
» Alle kennen Four«, sagt sie. » Wir haben die Initiation bei den Ferox gemeinsam gemacht. Ich war nicht gut beim Kämpfen, deshalb hat er jede Nacht, wenn die anderen schliefen, mit mir geübt.« Sie kratzt sich am Hinterkopf, ihre Miene wird plötzlich ernst. » Das war echt nett von ihm.«
Sie steht auf und stellt sich hinter die älteren Ferox, die an der Tür warten. Sofort ist ihr ernster Gesichtsausdruck wieder verschwunden, aber was sie gesagt hat, beschäftigt mich. Einerseits verwirrt mich die Vorstellung, dass Four » nett« gewesen sein soll, zugleich möchte ich ihr am liebsten eine reinhauen, aber ohne dass ich so genau wüsste, weshalb.
» Los geht’s!«, ruft Shauna. Der Zug fährt nicht langsamer, aber sie springt trotzdem aus dem Wagen. Die anderen folgen ihr, ein Strom von schwarz gekleideten, piercinggeschmückten Leuten, die allesamt älter sind als ich. Ich stelle mich neben Uriah an die Tür. Der Zug fährt heute viel schneller als sonst, aber in Gesellschaft all dieser erfahrenen Ferox darf ich nicht die Nerven verlieren. Also springe ich ab.
Ich treffe hart auf dem Boden auf und stolpere ein paar Schritte vorwärts, ehe ich mein Gleichgewicht wiederfinde.
Uriah und ich spurten mit den anderen Neulingen, von denen mich kaum einer beachtet, los, damit wir die Älteren einholen.
Im Laufen schaue ich mich um. Hinter uns hebt sich die Zentrale schwarz vor den Wolken ab, aber die Gebäude in der Nähe liegen dunkel und still da. Das heißt, wir sind nördlich der Brücke in den verlassenen Stadtteilen.
Wir biegen um eine Straßenecke und
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