Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
etwas zu tun hätte, würde mich das ablenken, und eine Ablenkung könnte ich jetzt gut gebrauchen.
Ich habe noch nicht viel Zeit mit Will alleine verbracht, aber Christina und Al haben sich noch mal hingelegt, und weder Will noch ich wollen uns länger als unbedingt nötig im Schlafsaal aufhalten. Will hat es mir zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber ich weiß es.
Ich kratze an meinen Fingernägeln herum. Ich habe mir die Hände sorgfältig gewaschen, habe jedoch immer noch das Gefühl, als klebe Edwards Blut daran. Will und ich laufen ziellos umher. Es gibt nichts, wohin wir gehen könnten.
» Wir könnten ihn besuchen«, schlägt Will vor. » Aber was sollen wir ihm sagen? › Hey, ich kenne dich zwar nur flüchtig, aber es tut mir echt leid, dass man dir das Auge ausgestochen hat? ‹ «
Das ist kein bisschen lustig, das weiß ich selber, aber plötzlich steckt ein Lachen in meinem Hals, also lache ich, weil es einfacher ist, es herauszulassen, als es zu unterdrücken. Will starrt mich einen Moment lang an, dann lacht er mit. Manchmal kann man nur lachen oder weinen, und lachen ist jetzt einfach besser.
» Tut mir leid«, sage ich. » Es ist nur so absurd.«
Ich möchte nicht um Edward weinen, weil es nicht aus der tiefen, persönlichen Zuneigung heraus geschähe, mit der man um einen Freund oder einen geliebten Menschen weint. Ich möchte weinen, weil etwas Schreckliches geschehen ist, weil ich zugesehen habe und keine Möglichkeit hatte, es zu verhindern. Keiner von denen, die Peter dafür bestrafen wollen, hat die Macht dazu, und keiner, der die Macht hat, ihn zu bestrafen, will es. Die Ferox haben Regeln, die solche Angriffe verbieten, aber wenn Leute wie Eric bei ihnen das Sagen haben, dann sind diese Regeln wohl wirkungslos.
Ich sage, jetzt wieder ganz ernst: » Das Lächerlichste an der ganzen Sache ist, dass es uns in anderen Fraktionen als Mut ausgelegt würde, wenn wir jemandem erzählten, was geschehen ist. Aber ausgerechnet hier bei den Ferox würde uns dieser Mut nur schaden.«
» Hast du jemals die Manifeste der Fraktionen gelesen?«, fragt mich Will.
Diese Programmschriften entstanden, nachdem sich die Fraktionen gebildet hatten. Wir haben in der Schule davon gehört, aber gelesen habe ich sie nicht.
» Nein, du etwa?«, frage ich stirnrunzelnd. Dann fällt mir ein, dass Will ja auch den ganzen Stadtplan auswendig gelernt hat, nur so zum Spaß. » Oh. Natürlich hast du sie gelesen. Wieso frage ich überhaupt.«
» Einer der Sätze, der mir aus dem Manifest der Ferox in Erinnerung geblieben ist, lautet: Wir glauben fest an die Tapferkeit und an den Mut, der die Menschen dazu bringt, sich für andere einzusetzen.« Will seufzt.
Er braucht nichts weiter zu sagen. Ich weiß, was er meint. Kann sein, dass die Ferox anfangs die besten Absichten hatten, die richtigen Ideale, die richtigen Ziele. Aber davon haben sie sich weit entfernt. Und das Gleiche kann man meiner Meinung nach auch von den Ken sagen. Vor langer Zeit widmeten sie sich den Wissenschaften und schätzten Erfindergeist, um auf diese Weise Gutes zu tun. Jetzt aber tun sie es aus Machthunger. Ich möchte wissen, ob auch die anderen Fraktionen mit ähnlichen Problemen kämpfen. Darüber habe ich bisher noch nie nachgedacht.
Aber trotz aller Verirrungen könnte ich die Ferox nicht verlassen. Und zwar nicht nur, weil ich sonst ohne Fraktion leben müsste, ganz auf mich allein gestellt, ein Schicksal, das in meinen Augen schlimmer ist als der Tod. Es ist, weil ich in den Momenten, in denen ich mich hier wohlfühlte, eine Fraktion kennengelernt habe, die es wert ist, dass sie weiterbesteht. Vielleicht werden wir ja wieder tapfer und anständig.
» Gehen wir in die Cafeteria und essen ein Stück Kuchen«, schlägt Will vor.
» Okay«, stimme ich lächelnd zu.
Unterwegs wiederhole ich im Geist die Zeile, die Will zitiert hat, damit ich sie nicht vergesse.
Wir glauben fest an die Tapferkeit und an den Mut, der die Menschen dazu bringt, sich für andere einzusetzen.
Ein schöner Gedanke.
Später, als ich in den Schlafsaal zurückkehre, ist Edwards Bett abgezogen und seine offenen Schubladenfächer sind leer geräumt. Auf der anderen Seite, bei Myras Bett, sieht es genauso aus.
Als ich von Christina wissen will, was los ist, sagt sie nur: » Sie haben aufgegeben.«
» Auch Myra?«
» Sie sagte, ohne Edward wolle sie nicht länger hierbleiben. Sie wäre ja ohnehin bald rausgeflogen.« Sie zuckt etwas ratlos die Schultern, und ich
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