Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
die Macht hat, mich zu heilen.
Bevor ich das Bad verlasse, kneife ich kräftig in meine Wangen, um die Durchblutung anzuregen. Das ist eigentlich idiotisch, aber ich möchte nicht vor allen anderen schwach und entkräftet wirken.
Als ich in Tobias’ Zimmer zurückkehre, liegt Uriah ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett; Christina hält die blaue Figur von Tobias’ Schreibtisch in den Händen und mustert sie eingehend; Lynn hat sich vor Uriah aufgebaut, ein Kissen in der Hand und ein schelmisches Grinsen im Gesicht.
Im nächsten Augenblick verpasst Lynn Uriah mit dem Kissen einen Schlag auf den Hinterkopf, Christina sagt: » Hey, Tris!« und Uriah schreit auf. » Aua! Wie um Himmels willenschaffst du es, jemandem mit einem Kissen wehzutun, Lynn?«
» Tja, das liegt wohl an meiner außergewöhnlichen Kraft«, sagt sie. » Hat dir jemand eine Ohrfeige verpasst, Tris? Deine Wange ist ja knallrot.«
Ich habe die andere Wange offenbar nicht fest genug gekniffen.
» Nein, das ist nur… meine persönliche Morgenröte.«
Der Scherz kommt zögernd, ich teste die Worte aus, wie bei einer fremden Sprache. Christina lacht laut auf, vielleicht ein bisschen zu überschwänglich, denn so lustig war meine Antwort nun auch wieder nicht, aber sie bemüht sich und ich weiß das zu schätzen. Uriah rutscht an den Rand des Bettes und federt ein paar Mal auf und ab.
» Nur damit klar ist, worüber hier kein Wort verloren wird«, sagt er und deutet auf mich. » Du bist nur knapp dem Tod entronnen, ein sadistischer Waschlappen hat dich gerettet, und jetzt führen wir alle zusammen mit den Fraktionslosen als Verbündeten einen erbitterten Krieg.«
» Waschlappen?«, sagt Christina.
» Das ist Ferox-Slang.« Lynn grinst. » Ist eigentlich als schwere Beleidigung gemeint, aber heutzutage benutzt den Ausdruck niemand mehr.«
» Ja, weil er so wahnsinnig kränkend ist«, sagt Uriah mit einem Nicken.
» Nein. Weil er so dämlich ist, dass kein Ferox mit einem Fünkchen Verstand den Begriff laut aussprechen, geschweige denn denken würde. Waschlappen. Wie alt bist du eigentlich, zwölf?«
» Zwölfeinhalb«, erwidert er.
Mich beschleicht das Gefühl, dass sie diesen Schlagabtausch meinetwegen führen, damit ich nichts sagen muss, sondern einfach lachen kann. Und genau das mache ich, so lange, bis sich der Klumpen in meinem Magen angenehm warm anfühlt.
» Unten gibt’s was zu essen«, sagt Christina. » Tobias hat Rührei gemacht. Ein widerliches Gericht, musste ich feststellen.«
» Hey«, sage ich. » Ich mag Rührei.«
» So was kann auch nur ein Stiff-Frühstück sein.« Sie zieht mich am Arm. » Na komm schon.«
Zusammen steigen wir die Treppe herunter, trampeln über die Stufen. So etwas wäre im Haus meiner Eltern nie erlaubt gewesen. Mein Vater hat mich immer zurechtgewiesen, wenn ich die Treppen hinunterrannte. » Lenke keine Aufmerksamkeit auf dich selbst«, hat er gesagt. » Das ist unhöflich deinen Mitmenschen gegenüber.«
Ich höre Menschen im Wohnzimmer– ein regelrechtes Stimmengewirr, unterbrochen von gelegentlichem lautem Gelächter und den gedämpften Klängen eines Saiteninstruments, eines Banjos vielleicht oder einer Gitarre. Nicht gerade das, was man in einem Haus der Altruan erwartet hätte, wo immer alles still bleibt, egal, wie viele Menschen zusammenkommen. Die Stimmen, das Gelächter und die Musik erfüllen den düsteren Ort mit Leben. Mir wird noch wärmer ums Herz.
Ich bleibe im Türrahmen stehen. Fünf Leute haben sich auf das Dreier-Sofa gequetscht und spielen ein Kartenspiel, das mir vom Hauptquartier der Candor bekannt vorkommt. Auf einem Lehnstuhl sitzt ein Mann mit einer Frau auf dem Schoß und auf der Lehne des Stuhls hockt jemand mit einer Suppendose in der Hand. Tobias sitzt auf dem Boden, mit dem Rücken gegen einen Kaffeetisch gelehnt. Seine ganze Haltung strahlt Gelassenheit aus– er hat ein Bein angewinkelt und das andere ausgestreckt, einen Arm um sein Knie geschlungen und den Kopf leicht geneigt, weil er jemandem zuhört. Ich habe ihn noch nie so entspannt gesehen. Ich hätte nie gedacht, dass das überhaupt möglich wäre.
In mir macht sich jene Beklemmung breit, die mich immer befällt, wenn jemand mir ins Gesicht lügt, aber ich weiß weder, wer mich dieses Mal belogen hat noch um was es dabei eigentlich geht. Aber das hier entspricht nicht dem Bild von den Fraktionslosen, wie es mir eingetrichtert wurde. Mir hat man beigebracht, dass das Dasein als
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