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Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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Tiefgang hatte es. Für dieses Schiff gab es kein Hindernis.
     
    Wie kalter Rauch von längst verbrannten Feuern lag plötzlich dieses alte Gefühl in seinem Magen. Die Arme weiter bewegen – mehr nicht! Die Arme? Wurden seine Haare schwerer? Schwankte sein Herz? Seine Finger fuhren zur Nasenwurzel und rieben sie. Einen Moment lang war alle Wirklichkeit nur eine Handbreit entfernt und dann verschwunden. Er sah nichts mehr! Liran lächelte verwundert, legte den Kopf schief und hörte auf zu lächeln. Der intensive Geruch von kaltem, von Nässe durchdrungenem Stein schwebte an ihm vorüber wie der Schatten einer Wolke.
    Unwillkürlich spannte sich jeder Muskel in ihm. Er ruderte kräftiger, worauf das Kanu zur Seite zog. Von vorn hörte er ein leises «Hey, pass doch auf!», doch er hörte es kaum, denn in seinem linken Knie war Kälte ausgebrochen, so voller Eis, dass er seine Kniescheibe knistern hörte. Er blinzelte, als hätte er etwas im Auge, und mit jedem Wimpernschlag kroch das Knistern höher zu ihm. Er glaubte schon, es auf der Zunge zu schmecken, diese Last aus Verderben und Tod. Dass er die ganze Zeit weiter paddelte, registrierte er gar nicht mehr. Jetzt knackten seine Rippen, als stemme sie etwas von innen nach außen. Nur noch einen Atemzug und sein Herz würde welken und im Wind davon wehen. Für einen sehr langsamen und glücklichen Moment konnte Liran sich nichts Schöneres vorstellen.
    Er verlor alles, was er noch hatte. Doch das Schlimmste daran war, dass er sie verlor. Sie, die gleich vor ihm saß, tapfer ruderte und keine Angst zeigte. Der Geruch von Stein stieg ihm wieder in die Nase, so deutlich, dass er für einen Augenblick alles andere vergaß. Mitten im Kanal hielt er das Ruder quer und zog es zurück. Nilah drehte sich zu ihm um und trotz der Schmerzen, die sich jetzt sogar in seine Sinne fraßen, konnte er sprechen.
    Er ahnte, dass sie unter der letzten Brücke waren, er roch viel Wasser, sehr viel Wasser!
    «Nilah, hör mir jetzt gut zu! Irgendetwas ist über uns. Wenn ich Jetzt sage, dann ruderst Du, wie Du noch nie in deinem Leben gerudert hast! Du kennst den Weg. Schreie für mich. Schrei links, rechts, geradeaus, was immer nötig ist, aber schreie, damit ich Dich hören kann. Ich kann nichts mehr sehen, Nilah. Deine Stimme wird mein Augenlicht sein! Verstanden? Gut, hol tief Luft, setze das Paddel links, ich werde rechts rudern ...»
     
    Nilahs Herz schlug wie von Sinnen. Sie hockten mit dem Kanu unter der letzten Brücke, die
zur Außenalster führte. In der Dunkelheit sah es aus, als würden sie auf das Meer hinausfahren. Der See war so unglaublich groß, viel größer als in ihrer Erinnerung bei Tage. Ein Meer aus schwarzem Wasser.
    Liran flüsterte, doch es klang wie ein Donnern in ihren Ohren. Er war blind? Über ihr hörte sie ein Stampfen und schlurfende Schritte, die ihr bis in die Knochen fuhren. Es hörte sich an, als schleife jemand einen großen Stein über den Asphalt. Rudern? Ja, sie würde rudern, wenn Liran es wollte. Verdammt, sie würde so vieles tun, wenn er es von ihr verlangte. Ihr wurde plötzlich warm, die Mütze fing an zu jucken, doch sie nickte nur. Ihre Muskeln verkrampften sich, sie hielt das Paddel über den Rand des Kanus und sah auf ihre Hände. Ihr Keuchen hallte zwischen den gewölbten Klinkersteinen hin und her, sie glaubte tausend Mal in der Sekunde zu atmen... «Jetzt!»
    Sie tauchte das Paddel tief ein, zog es mit aller Kraft nach hinten und schrie kurz auf, als der Bug sich anhob und sich erst wieder senkte, als sie unter der Brücke hervorschossen. Dann ruderte sie mit jeder Faser ihres Lebens.
    Nichts war mehr wie es war. Das Kanu, die Dunkelheit, ja selbst die Stadt hatte sich verändert. Sich geduckt, verschoben und verdreht - binnen Wimpernschlägen. Nilah sah nur noch fließende Schwärze vor sich, die in andere Schwärze floss. Wo war der kürzeste Weg zum Museum? Museum? Welches denn? Als sie über ihre Schulter blickte, sah sie es dort stehen. Zwischen den Geräuschen, die ihre Ruder machten, und dem wild spritzenden Wasser sah sie es, wie es mit breiten Händen das Geländer umklammerte, die Hälfte davon herausbrach und ihnen hinterherschleuderte. Man hörte das Fauchen der Drehung in der Luft. Klatschend verschwand der Brückenpfeiler neben dem Kanu und türmte eine hohe, schäumende Welle auf. Doch Nilah ruderte und ruderte. Wohin, das war egal! Dann begann sie zu schreien. «Links», war das erste, was sie rief.
     
    So etwas

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