Die Bestimmung
war nichts zu erkennen. Aus ihrer Reisetasche holte sie ihr kleines Schweizer Armeemesser, klappte die Klinge heraus und schlitzte den Brief vorsichtig auf. Eine zusammengefaltete Seite steckte darin. Mit angehaltenem Atem klemmte sie diese zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann öffnete sie das Blatt: Nur drei Zeilen darauf. Der Rest der Seite war fleckig.
Das Herz ist Wahrheit.
Das Auge ist Licht.
Unter Deinem Blick entsteht die Welt.
Alle drei Sätze waren in makellosem deutsch geschrieben. Nilah las die Zeilen wieder und wieder, als hoffte sie, der Inhalt würde sich auf wundersame Weise in etwas Anderes, Verständliches verwandeln. Aber das hier ergab nicht den geringsten Sinn. Was hatte sich Edda nur dabei gedacht? Wie lange lag dieser Brief überhaupt schon hier? Und wer hatte ihn dort für sie hingelegt?
Ein wenig ratlos legte Nilah ihn erst einmal auf die Fensterbank. Sie wollte später ihren Vater danach fragen. Draußen brach die Dämmerung herein und sie hatte Hunger. Sie ging hinunter und fand ihren Vater dabei, wie er das Sofa aufmerksam in Augenschein nahm, es prüfend mit der flachen Hand puffte und anscheinend die Länge abschätzte. Er sah seine Tochter kurz an und blickte dann wieder auf das altertümliche Ding.
«Ich kann in dem Bett Deiner Oma nicht schlafen, da kriege ich kein Auge zu. Ich sehe mich gerade nach Alternativen um.»
Nilah nickte mitleidig. Sie konnte ihn verstehen. Dieses Land hatte etwas an sich, das an alten schlummernden Genen zu rütteln schien, sobald man den gleichförmigen Hort einer zivilisierten Großstadt verließ. Diese Hügel, die vielen verlassenen Gebäude, Ruinen überall, seltsame Steingebilde – alles war so ... so gruselig. Dass es in Hamburg Geister geben könnte, würde man mit einem Lächeln quittieren. Dass es in Irland spuken könnte, machte das Lächeln irgendwie unsicher.
«Du kannst bei mir oben schlafen, wenn Du nicht so schnarchst», schlug sie vor. «Das Gästebett ist riesig.»
Aber er schüttelte nur den Kopf.
«Notfalls schläfst Du eben auf dem Boden, Du hast doch immer Deinen Schlafsack samt Isomatte dabei, also ...», sagte sie aufmunternd, aber ihr Vater blickte nur missmutig zu ihren Füßen und schien sagen zu wollen, dass er aus dem Alter heraus sei, um auf harten Dielen zu nächtigen, wo es wie Hechtsuppe zog und die Spinnen fast in Augenhöhe krabbelten.
«Ich hab´ Kohldampf», stieß Nilah hervor und dabei klopfte mit den flachen Händen auf ihren Bauch, um anzudeuten, dass darin totale Ebbe war. «Das liegt, glaube ich, an der Luft hier.»
«Tja, der Kühlschrank ist leer. Und die paar Büchsen, von denen ich eigentlich gar nicht wissen möchte, was drin sein könnte, sehen aus, als hätten sie die Fabrik sogar noch vor meiner Geburt verlassen. Vielleicht können wir irgendwo 'was essen gehen. Hier wird´s doch sicher so etwas wie ein Dorf in der Nähe geben.»
«Also, wir können doch nicht jetzt, wo es bald dunkel wird, einfach losmarschieren und hoffen, irgendein Restaurant zu ...»
Es klopfte und beide fuhren erschrocken zusammen. Nilahs Vater ging den Korridor entlang und blieb vor der Tür stehen. Er blickte zurück zu Nilah, doch die zuckte nur mit den Schultern und machte eine Wie-wärs-mit-aufmachen-Schnute.
«Wer ist da?» fragte er.
Statt einer Antwort wurde nur erneut geklopft. Ihr Vater machte auf, nur einen Spalt zunächst, um gegen alles gewappnet zu sein, aber dann schwang er die Tür so flott beiseite, als wäre draußen der Pizzaservice vorgefahren.
«Danke», sagte eine weibliche Stimme und trat ein, in den Armen einen großen geflochtenen Weidenkorb, aus dem es ziemlich lecker roch. Nilah sah eine Frau auf sich zukommen, die Haare schwarz wie Moorwasser, mit Locken, die eindeutig von Mutter Natur waren, und ein paar dunkelbraunen Augen, die ehrlich, aber auf unheimliche Art sehr wissend aussahen. Über den schön geschwungenen Lippen war eine scharf geschnittene Nase, die der Frau eine gewisse Härte verlieh, welche aber durch die weichen Züge des Gesichts wieder abgemildert wurde. Nicht ein Hauch von Make-up. Für einen kurzen, aber stechenden Augenblick war Nilah eifersüchtig. Die Frau lächelte sie an, schritt schnurstracks zur Küche durch, stellte den Korb ab und kam dann mit ausgestreckter Hand auf die beiden Verblüfften zu. Sie trug hohe Reiterstiefel und einen feuerroten Rock, der viel zu eng war. Sie bewegte sich sehr sicher.
«Hallo und willkommen in Connemara!», begrüßte sie die
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