Die Bestimmung
die Gedanken in Schwung zu bringen. Unten klapperte bereits ihr Vater herum. Anscheinend hatte er die erste Nacht eher ungemütlich verbracht, denn er fluchte leise aber bestimmt auf das Sofa ein. Außerdem hörte sie eindeutig das Wort: Aspirin . Nilah musste lächeln, als draußen ein Auto hupte. Sie sah aus dem Fenster und erblickte inmitten von Nebelschwaden einen alten silberfarbenen R4, der ohne Licht und Eleganz den Hügel herunterbrauste. Die schwarzen Locken hinter der Windschutzscheibe waren nicht zu übersehen. Nilah verzog das Gesicht. Na klasse , dachte sie. Da wird sich aber gleich Panik einstellen.
Und so war es auch. Von unten hörte man einen Stoß, einen herzhaften Fluch und hektisches Umherlaufen. Nilah sah es förmlich vor sich, wie ihr Vater in den ihm verbleibenen paar Sekunden versuchte, sein Erscheinungsbild halbwegs in Ordnung zu bringen, um Eindruck zu schinden. Sie hörte gar nicht mehr richtig hin, als es unten klopfte, ihr Vater erst in ein Kissen hustete, um dann gutgelaunt: «Komme», zu rufen, als wäre er schon seit Stunden auf den Beinen.
Nilah kramte den Brief wieder hervor. Was waren das nur für seltsame längliche Flecken? Sie schüttelte den Kopf und strich sachte mit den Fingerkuppen über die Zeilen. Nicht die kleinste Spur von Erhebungen oder Vertiefungen, als wäre das Blatt gar nicht beschrieben worden. Sie drehte es um, hielt es gegen das Licht am Fenster und kniff ein Auge zu. Das Resultat war das Gleiche. Kein weiterer Buchstabe schien darauf zu stehen. Sie zog die Stirn in Falten. Edda hatte ihn hier auf ihr Kopfkissen gelegt … oder legen lassen? Jedenfalls sollte sie ihn bekommen und folglich hatte Edda damit gerechnet oder gewusst, dass Nilah diesen Brief lesen würde. Sie musste also davon ausgegangen sein, dass sie ihn auch verstehen würde. Nilah roch Kaffee und beschloss, den Tag heute einfach auf sich wirken zu lassen.
Der Wagen fuhr durch den Nebel. Es hatte den Anschein, als hätte das Meer sich entschlossen, seine Brandung an diesem Tag über das ganze Land zu flüstern, so wehte es über die Hügel.
Vorn saßen die beiden Turteltäubchen. Morrin war klassisch angezogen. Ein schwarzes Kleid, bestimmt nicht neu, die Haare, zu Zöpfen geflochten, hingen auf ihren Schultern und dann und wann blickte sie lächelnd in den Rückspiegel. Aber Nilah sah lieber aus dem Seitenfenster. Ihr Vater hatte sich in Schale geworfen, was für ihn bedeutete, dass er eine anständige Jeans trug und die Haare gekämmt hatte. Die Krawatte an ihm wirkte einfach lächerlich. Er machte Smalltalk, formte mit den Händen Zoom-Ausschnitte, Kameraeinstellungen und redete zu laut. Sie fuhren an den Steinmauern vorbei, von denen diese Insel teilweise wie ein Netz überzogen war und die früher die Aussaat vor den Winden schützen sollte. Aber heute setzte Irland ein trauriges, verschleiertes Gesicht auf, daran konnten selbst die grünen Wiesen nichts ändern. Eine Weile verfolgte ein Bordercollie sie bellend.
Als sie auf den Weg der Kapelle einbogen, schälte sich aus dem Dunst eine so winzige Kirche, dass Nilah fast gelacht hätte. Ausnahmslos aus Natursteinen gemauert, schien sie irgendwann für eine Gemeinde gemacht worden zu sein, die aus nicht mehr als zehn Dörflern bestanden hatte. Trotzdem umgab sie eine Aura. Eine Aura, die jene Menschen hinterließen, die hier Jahrhunderte lang gelebt und überlebt hatten und irgendwann den Weg gingen, den jeder einmal gehen musste, so wie Edda.
Fast quadratisch stand das Gotteshaus da. Mit einem Turm, den jeder anständige Architekt aus Scham wieder eingerissen hätte. Das Kreuz oben an der Spitze hatte einen Knick nach Osten, vermutlich von einem Sturm. Der schmale Kiesweg zur Kirche selbst war von zahlreichen Findlingen gesäumt, zwischen denen Blumen wuchsen, und endete an einem einfachen, schmucklosen Holztor. Lediglich eine geschmiedete, schwarz gerußte, große Klinke zierte das Tor.
Sie gingen hinein und Nilah sah zuerst nach oben. Das tat sie immer, wenn sie irgendwo war und sich fremd fühlte. Ein enger Gang aus flachen abgetretenen Steinen, links und rechts jeweils ein paar Reihen grober hölzerner länglicher Bänke, auf denen schon einige saßen und stur nach vorn blickten. Die Kanzel war ein alter mächtiger Felsbrocken, auf den man das Antlitz des Heiligen Patrick gemalt hatte. Dahinter, an der weiß getünchten Wand, hing ein Bild des aktuellen Papstes. Nur zwei runde Öffnungen ließen Licht von außen herein. Hoch waren
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