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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Ein Beutel voll dunklem Urin baumelt unter dem Bett. Auf Suzans Fragen hin kann der Patient zwar seinen Namen nennen, doch es gelingt ihm nicht, sich sein Geburtsdatum zu vergegenwärtigen. »Schmerzen. Schmerzen im Bauch«, lautet die Antwort auf die Frage, woran er operiert werden soll. Seine Nase und seine Ohren sind überproportional groß.
    Blasenkarzinom, liest Suzan in der Patientenakte. Operation, seither Blasenstoma. Daher der Beutel. Der Mann hat einen riesigen Narbenbruch. Heute soll die Gallenblase raus. Er kann nicht sagen, ob er gegen irgendetwas allergisch ist.
    Selbst als sie im OP angelangt sind, blickt sich der Mann noch voller Zuversicht um. All die Leuchten und Apparaturen scheinen ihm nichts auszumachen.
    Mit Mühe bugsieren Suzan und Anästhesiepfleger Sjoerd den Mann auf den Tisch. Schläuche sind im Weg, der große Kopf findet kaum Platz, und die Armstützen müssen mit Gewalt in die richtige Stellung gerammt werden. Ein chirurgischer Assistenzarzt hockt mit einer Gesäßhälfte auf der Tischkante und telefoniert. Er reagiert nicht, als Suzan ihn fragt, wer operieren wird.
    »Hallo! Ich habe etwas gefragt!«
    »Oh«, sagt der junge Mann, »Annemiek. Doktor Lelieveld, meine ich. Sie kommt gleich.« Er setzt sein Telefongespräch fort.
    Es hat wenig Sinn, mit dem Patienten zu reden, während sie auf den Chirurgen warten. Der Mann hat keine Erinnerung an frühere Eingriffe und meidet, obwohl weiterhin freundlich dreinschauend, den Blickkontakt mit Suzan. Als die Operateure endlich beim Waschen sind, narkotisiert sie den Patienten und intubiert ihn problemlos.
    »Das ging gut!«, sagt Sjoerd begeistert. Er hat gerade erst mit seiner Ausbildung angefangen, Suzan kennt ihn, weil sie die Neuen vorige Woche unterrichtet hat.
    »Ja. Soll ich dich mal testen? Wenn ich sage: Mallampati I, ASA IV, weißt du dann, was das bedeutet?«
    Sjoerd lacht. »Das Haus ist eine Ruine, und die Tür steht sperrangelweit offen.«
    »Großartig«, findet Suzan, »genauso funktioniert’s, du musst dir zu all diesen Tabellen etwas vorstellen. Dann hast du bei jeder dieser Ziffern ein Bild vor dir. Du hast Talent, Sjoerd. Der Bauch verhält sich aber merkwürdig, schau mal!«
    Die OP-Schwester, eine der aus Indien rekrutierten Kräfte, reibt den Bauch gerade mit tiefrotem Desinfektionsmittel ein. Die Bauchwand hebt und senkt sich mit der Atmung. Aus dem Bruch quillt etwas hervor, was eigentlich im Innern zu bleiben hätte. Suzan horcht mit ihrem Stethoskop die Lunge ab und konstatiert auf beiden Seiten zufriedenstellende Geräusche. Sie zuckt die Achseln.
    Die Inderin rückt jetzt dem Nabel zu Leibe. Mit einer Pinzette entfernt sie einen harten Klumpen, den sie mit einem Klicken in ein Becken fallen lässt.
    »Ein Nabelstein!«, jauchzt Sjoerd. »So was hab ich noch nie gesehen.«
    Die OP-Schwester hat inzwischen ein Blasenkatheterset geholt und macht Anstalten, den Katheter einzuführen. Es dauert einen Moment, bevor allen bewusst wird, dass das wegen des künstlichen Blasenausgangs ja gar nicht nötig ist, so als habe sich die Zerstreutheit des Patienten auf das ganze Team übertragen. Konzentration, denkt Suzan, ich muss besser aufpassen. Wie schön diese Inderin aussieht, mit dem aufgerollten Haar unter den Bändern ihres Mundschutzes, so vornehm und elegant. Ich glaube nicht, dass sie versteht, was wir sagen, aber sie wirkt hellwach, ihr entgeht nichts. Na ja, abgesehen von dem Stoma. Mit größter Sorgfalt bewegt die Frau den dunkelroten Wattetupfer mit der langen Zange um den Nabel herum, langsam und ohne Hast.
    Erneut der Piepser. Winston ist bei der Übernähung fertig und kommt sie ablösen, damit sie auf der Entbindungsstation eine Epiduralanästhesie setzen kann.
    Die Chirurgin, eine ruhige, sympathische Frau, hat ein Endoskop durch den Nabel eingeführt, um nach dem Stiel zu suchen, an dem die Gallenblase hängt wie eine reife Birne. Der Blutdruck sinkt, aber Winston betrachtet das eher als Herausforderung.
    »Geh du nur«, sagt er. »Wir sehen uns später.«
    Komisches Zimmer, denkt Suzan, als sie zu der Schwangeren hineingeht. Sie tun so, als ob das hier ein normales Wohnzimmer wäre, mit Topfpflanzen und Holzschränkchen und dergleichen. Aber wie unecht das alles wirkt! Allein schon dieses hohe Bett. Sie schiebt den Gedanken an das Sterbebett ihrer Schwägerin beiseite. Die Schwangere sitzt aufrecht und keucht. Sowie sie zu Atem kommt, schreit sie, dass sie Schmerzen habe, viel zu starke Schmerzen, sie

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