Die Betäubung: Roman (German Edition)
halte das nicht aus, sie habe ein Recht darauf, betäubt zu werden. Ihr Mann stiehlt sich auf den Flur hinaus, als Suzan die Nadel zückt. Die Schwester hilft der Frau in die richtige Position am Bettrand.
»Entspannen Sie sich«, sagt Suzan, »lassen Sie den Rücken ruhig krumm.«
Die Knie auf der Matratze, befühlt Suzan die Muskulatur, die ganz hart ist vor Angst und Aufregung. So bekommt sie die Nadel niemals hinein. Sie umspritzt die anvisierte Punktionsstelle daher mit Lidocain.
»Jetzt werden Sie nichts spüren. Und wenn wir fertig sind, sind Sie die schmerzhaften Wehen los.«
Sie zählt die Wirbel ab und plaudert dabei über warmes Wasser und Sonnenschein, um die Patientin in einen entspannteren Zustand zu versetzen. Sie muss dreimal punktieren, bevor sie durch das zähe Ligament hindurch ist, das den Epiduralraum abgrenzt. Hinter sich hört sie die Tür auf- und wieder zugehen. Der verschreckte Ehemann, denkt sie, der geht noch eine weitere Runde um den Block. Für jemanden mit intakten Grenzen ist es bedrohlich, dieses Eindringen mit anzuschauen. Ich sehe auch bestimmt ziemlich gruselig aus, mit den Handschuhen und dieser großen sterilen Schürze. Andererseits kann er froh sein, dass das Brüllen und Jammern gleich vorüber ist. Der Epiduralkatheter sitzt, und die Frau kann sich wieder in die Kissen zurücklegen.
»Ich spüre noch was«, sagt sie, »ich spüre die Wehen!«
»Das muss auch so sein«, erwidert Suzan, »nur die Schmerzspitzen sind weg. Wenn nötig, kann jederzeit etwas nachgespritzt werden, Sie brauchen also keine Angst zu haben, und Ihr Mann kann auch wieder hereinkommen.«
Sie wirft ihre Schürze in den Abfalleimer und geht in das kleine Büro, um ihre Intervention in die Patientenakte einzutragen. Du schiebst die Beine unter fremde Tische, du bist nirgendwo zu Hause, aber überall willkommen, du kritzelst deine Angaben in Akten, die von anderen geführt werden, und zwischendrin bekommst du Kaffee und Kuchen, denkt sie. Auf der Entbindungsstation stehen immer Torten und Pralinenschachteln auf Bücherregalen und Schreibtischen, man kommt sich vor wie in einer Konditorei.
Suzan eilt zur Gallenblasenresektion zurück.
»Ein riesiges Ding«, sagt Annemiek, die Chirurgin. »Ich habe sie leergesaugt, aber sie ist immer noch viel zu groß. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Sie zieht und zieht, wie ein Angler, der mit einem mächtigen Hecht ringt. Suzan wirft einen Blick auf den Monitor, die Werte sind passabel, Winston hat seine Arbeit gut gemacht.
»Jetzt kommt sie, ich fühl’s!« Die Chirurgin zieht noch einmal kräftig und fördert einen grünlich braunen Sack von gut zwanzig Zentimeter Umfang durch den Nabel zutage. Sie hält ihn hoch, damit alle das Wunder sehen können.
»Hurra«, ruft Sjoerd, »wir wollen sie ›Gallenblase‹ nennen!«
Im Kaffeeraum stehen zwei große Tische. Am einen sitzen die Mitarbeiter der Chirurgie, der andere ist der Anästhesie vorbehalten. Niemand hat das so bestimmt, die Trennung ist von allein zustande gekommen. Suzan lässt sich zwischen Winston und Jeroen, einem Assistenten im ersten Weiterbildungsjahr, nieder, die über die furchtbaren Verletzungen fachsimpeln, welche man sich beim Umgang mit Pferden zuziehen kann. Abgebissene Finger, Trümmerbrüche, Querschnittslähmungen. Dann versuchen die beiden zu berechnen, wie viel Propofol man für eine Vollnarkose bei einem Pferd bräuchte. Hinter den großen Fenstern beginnt der Himmel schon wieder dunkel zu werden. An den vorüberziehenden Wolkenmassen kann man sehen, dass ein starker Wind geht. Turbulentes Wetter, denkt Suzan, aber hier ist alles ruhig. Auf der Fensterbank liegen Kartons mit Gesellschaftsspielen, und an der Wand steht ein Sjoelbak, als befänden sie sich hier im Aufenthaltsraum eines Pfadfindervereins. Die Reinemachetrupps ziehen los, um die Operationssäle zu desinfizieren, die Behälter mit schmutziger Arbeitskleidung müssen geholt, Mund- und Haarschutzbestände aufgefüllt werden. Ein OP-Team nach dem anderen trudelt nach getaner Arbeit ein. Man zögert die Heimkehr noch ein wenig hinaus, nimmt Anlauf für den Sprung über den Graben, will sich sicher sein, dass man mit der blauen Arbeitskleidung auch das Elend der Patienten hinter sich zurücklässt.
Winston geht essen, während Suzan kurz in die Notaufnahme gerufen wird, wo ein bulliger Mann mit klobigen Arbeitsschuhen an den Füßen hereingefahren wird. Er hatte einen Auffahrunfall und verspürt Schmerzen im
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