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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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ein schmales Bett und ein kleiner Schreibtisch mit altmodischer Lampe darauf und Telefon, damit man auf den Piepser reagieren kann. Bei einem hereinkommenden Unfall stürmen sie allesamt aus ihren Türen wie Feuerwehrleute nach dem Alarm und rennen mit Schlaffrisur und zerknitterter Kleidung in die Notaufnahme.
    Sie hat nicht wirklich geschlafen, ist aber froh gewesen, dass sie mal kurz die Beine hochlegen konnte. Sie lag da und sinnierte darüber, wie wechselhaft das Gefühl von Kompetenz war, das man in seinem Beruf erfuhr. So einer wie Jan-Peter, der seinen Facharzttitel fast in der Tasche hatte, strahlte aus, alles zu wissen und für jede Situation die passende Maßnahme improvisieren zu können. Sie konnte sich noch an dieses Gefühl erinnern, es entwickelte sich im Laufe der Lehrjahre und hielt bis zum ersten größeren Rückschlag an. Der konnte in wer weiß was bestehen, Missgeschicke kamen immer mal vor. Allerdings herrschte die stillschweigende Übereinkunft, die Wahrscheinlichkeit von Patzern zu bagatellisieren. Die Anästhesie war sicher. Punkt. Chirurgen machten Fehler, das lag in der Natur ihrer Arbeit. Bei ihr hat es geraume Zeit gedauert, bis sie einsehen musste, dass auch der Anästhesist nicht unfehlbar war. In ihrem Fall ging es um einen gesunden jungen Mann, der am Ellenbogen operiert werden sollte. Er wollte keine Vollnarkose und hatte keine Angst. Sie setzte eine Axillarisblockade und war stolz, dass ihr das schnell gelang. Kurz darauf geriet das gesamte Team in Panik – der Patient war offenbar allergisch gegen das Mittel, bekam einen Schock und war nicht mehr zu reanimieren. Obwohl es schon viele Jahre her war, dachte sie immer noch mit Schaudern daran. So etwas kam vor. Jeder von ihnen wurde irgendwann mit etwas Derartigem konfrontiert. Es konnte passieren, dass man keinen Atemwegszugang bekam und der Patient einem unter den Händen erstickte, es kam vor, dass man das falsche Medikament spritzte, so dass der Blutdruck in schwindelerregende Höhe stieg und der Patient an einer Massenblutung im Gehirn starb. Andere brauchten einen handgreiflich werdenden Streit mit dem Chirurgen, um aus der Illusion von der kompletten Beherrschung zu erwachen. Für sie alle kam irgendwann der Moment der Erkenntnis, dass der Beruf viel komplizierter und gefährlicher war, als sie in ihrer Unschuld gedacht hatten. Man brauchte den Übermut des Anfängers, um das Fach zu erlernen, doch das wirkliche Verstehen stellte sich erst später ein. Das wuchs langsam heran, und das meist nicht dank der Erfolge, sondern gerade anhand von Missgeschicken. Was würde Jan-Peter den Knacks versetzen? Und würde er sich, so wie sie damals, von Kollegen auffangen lassen?
    Sie drehte sich in dem schmalen Bett auf die andere Seite. Was, wenn die mühsam erworbene Sicherheit, über die sie jetzt verfügte, wieder ins Wanken geriet? Sie hatte das ja in der Ausbildung auch schon erlebt und war damit nicht die Einzige gewesen. Nach dem ersten Jahr der Weiterbildung strotzten die angehenden Fachärzte vor Selbstvertrauen, doch je mehr sie lernten und erlebten, desto ohnmächtiger fühlten sie sich. Ab Mitte des vierten Jahres, spätestens aber im fünften Jahr stieg die Selbstvertrauenskurve dann wieder stetig an. Vielleicht war das ja eine kontinuierliche Wellenbewegung, und ihr Selbstvertrauen konnte erneut auf null absinken. Warum redeten sie nie über solche Sachen?
    Der Piepser in ihrer Brusttasche drückte, und sie nahm ihn heraus und legt ihn neben dem Bett auf den Boden. Wäre das ein Thema für die Besprechung mit Vereycken? Drik würde das bestimmt verneinen. Jeder wappne sich auf seine Weise gegen das Auf und Ab des Selbstbewusstseins, würde er sagen, und daran solle man nicht herumdoktern. Trotzdem würde sie gern … Darüber schlief sie ein.
    In der Morgensonne kann sie sich die nächtlichen Gedanken kaum noch vergegenwärtigen. Sie freut sich auf Kaffee in der Küche, die Zeitung, das frisch bezogene Bett und viel Platz im leeren, hellen Haus.
    Es gelingt ihr, bis ein Uhr mittags zu schlafen. Dann sitzt sie geduscht und angezogen mit der x-ten Tasse Kaffee am Tisch. Was jetzt? Einkäufe machen und etwas Raffiniertes kochen? Simone anrufen und fragen, wie ihr der Wiedereinstieg bekommt? Nach drei Monaten Reha hat sie wieder halbtags in der Ambulanz angefangen. Sie müsste eigentlich mal zu ihr, einen Tee mit ihr trinken, sie aufbauen. Aber sie lässt das Handy in der Tasche und bleibt sitzen. Im Altenheim anzurufen, um

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