Die Betäubung: Roman (German Edition)
die Uniklinik. Dort wird es gemacht. Der Psychiater fährt mit. Der muss es machen. Dazu eine Pflegekraft. Und ein Assistent. Ein Kleinbus fährt vor. In den müssen sie einsteigen. Teilnahmslose alte Leute. Manche haben Angst, andere hängen wie weggetreten in ihren Gurten. Ist doch komisch, dass zu so einer drastischen Methode gegriffen wird, ohne dass irgendwer erklären könnte, wie sie wirkt, nicht? Ich habe gesehen, wie es den Patienten schon nach wenigen Malen besser geht. Bei manchen dauert es lange, bis zu drei Monate, zweimal die Woche. Zu guter Letzt zeigt sich aber doch meistens ein Effekt. Bei uns promoviert jemand darüber. Elektrokrampfbehandlung bei alten Menschen.«
Drik nimmt eine andere Sitzhaltung ein. Allard spricht selten so lange am Stück. Worum es ihm eigentlich geht, ist nicht ersichtlich, aber Drik wird nicht ungeduldig und betrachtet das als Indiz dafür, dass der Erzähler emotional mit seiner Geschichte im Gleichklang ist.
»Vorige Woche musste ich plötzlich mit. Der Kollege, der das meistens macht, hatte frei. Ich sollte einen Mann begleiten, der schon seine zweite Schockserie bekommt. Die erste hat nicht geholfen. Er hatte so ein teigiges Gesicht und hängende Augenlider, dem sah man die Depression wirklich an. Er sagte kein Wort. Dafür war die Schwester, die dabei war, eine Frau, die überhaupt nicht mehr aufhören konnte zu reden. Als wir da waren, mussten wir mit dem Fahrstuhl ganz nach oben, in ein Kabuff neben dem Aufwachraum, in dem lauter Frischoperierte lagen, mit Infusionen und Monitoren über dem Bett. Ich hab den Mann in einen Rollstuhl gesetzt und geschoben, der konnte sich nicht mal mehr dazu aufraffen, selbst zu gehen. Der Psychiater schaute sich den Apparat an, einen kleinen, ziemlich primitiven Kasten, der auf der Fensterbank stand. Mein Patient musste sich aufs Bett legen. Er tat alles, was man ihm sagte, als hätte er keine Ahnung, was ihm bevorstand. Vielleicht interessierte es ihn auch gar nicht. Das Fußende vom Bett musste weg, daran hätte er sich verletzen können. Diese Schocks sind so heftig, dass sich die Leute glatt die Knochen brechen können. Sie bekommen Muskelrelaxanzien, sonst krampfen sie sich womöglich tot. Den Mann kümmerte es nicht. Der ließ alles mit sich geschehen. Sie rieben seinen Kopf ab und brachten die Elektroden an. Ich musste an eine Hinrichtung denken.«
Er blickt beschämt zu Boden. Drik brummt bestätigend und nickt. Hier ist nichts absonderlich. Nichts wird missbilligt oder verurteilt. Wahrscheinlich ist sich Allard gar nicht darüber bewusst, dass er sich mit dem Henker identifiziert. Wart ab. Halt den Mund.
Allard holt tief Luft und spricht weiter.
»Dann kam ein Mann in OP-Bekleidung herein, mit so einer komischen Duschhaube auf dem Kopf. Er stellte sich der Schwester vor, Veenstra, verstand ich, von der Anästhesie. Mir gab er auch die Hand. Ich vermutete, dass er mich für den Busfahrer hielt. Wir tragen ja keine Berufskleidung, keinen weißen Kittel. Wir sehen nicht anders aus als die Patienten. Dieser Veenstra besprach sich mit dem Psychiater. Einseitige Schocks hätten keine Wirkung gehabt, sie würden es jetzt bilateral versuchen. Im rechten Arm wurde ein venöser Zugang gelegt, der linke musste abgebunden werden, bevor die Muskelrelaxanzien gespritzt wurden. An dem kann man dann die Dauer des Krampfs ablesen. Alles gut durchdacht. Ich schaute dem Anästhesisten zu. Er sprach mit dem Patienten, obwohl der nichts zu hören schien. Was man halt so sagt, dass er ihm jetzt ein bisschen wehtun müsse, ein kleiner Pikser, und dass er ihn dann in Schlaf versetzen werde. Währenddessen legte er den venösen Zugang, sehr geschickt und schnell. Ich stand in einer Ecke, die Tür war offen, so dass ich in den Aufwachraum blicken konnte. Da stand ein Surinamer mit ein paar jüngeren Assistenzärzten zusammen, und sie lachten und naschten irgendetwas, was sie sich aus einem kleinen Eimer nahmen. Der Patient bekam ein Schlafmittel gespritzt. Eigentlich sah man ihm kaum an, dass er nicht mehr bei Bewusstsein war, sein Gesicht war genauso ausdruckslos wie vorher. Der Psychiater zog die Manschette fest an, die war auf seiner Seite. Als Veenstra das Muskelrelaxans spritzte, sah man schon, dass der Mann sich entspannte. Glaube ich. Der Psychiater sagte: Jetzt!, und drückte auf einen Knopf. Der Mann zuckte und bebte, aber nicht übermäßig, fand ich. Es musste noch einmal wiederholt werden. Der Anästhesist wollte, dass die Tür
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