Die Betäubung: Roman (German Edition)
Griff. Nachdenken kann sie später noch.
»Dann lass uns doch kurz über den Blumenmarkt laufen, da können wir ein Mitbringsel für sie kaufen. Und Blumen für dich.«
Leida. Wie kommt sie dazu? Alles geschieht hinter meinem Rücken. Ich wusste gar nicht, dass sie einen so engen Kontakt haben. Warum eigentlich nicht, Leida ist für Roos wie eine Großmutter. Ich sollte das begrüßen, es ist doch großartig, dass Roos an einer alten Frau wie ihr Interesse zeigt. Warum bin ich dann so geschockt? Wäre es mir lieber, sie würde mich in Sachen berufstätige Frauen interviewen? Wenn ich sage, dass ich mal aufs Klo muss, könnte ich mir diesen Rasierpinsel ansehen.
Roos unterbricht Suzans Gegrübel, als sie selbst zur Toilette geht. Suzan hört das Plätschern, den Spülkastenwasserfall, das Rauschen aus dem Wasserhahn. Dann steht ihre Tochter mit einem Notizblock unter dem Arm vor ihr.
»Hättest du Lust mitzukommen?«
Zuerst: Hau ab, und dann: Komm näher. Man weiß nie, woran man bei ihr ist.
»Störe ich denn nicht bei deinem Interview?«
»Es ist erst ein Vorgespräch«, erklärt Roos. »Ich will ihr erzählen, wozu das Ganze gut sein soll. Und sie fragen, ob ich es aufnehmen darf. Danach muss ich bestimmt noch zweimal wieder hin. Allein.«
Sie kaufen einen Strauß Rosen. Für sich selbst möchte Roos keine Blumen. Wer weiß, vielleicht ist dieser Freund dagegen allergisch, denkt Suzan, oder er wird eifersüchtig, wenn ein Blumenstrauß dasteht. Vielleicht will sie sich nichts von dir schenken lassen. Selbstständig sein. Nimm’s einfach hin.
Suzan schiebt ihr Fahrrad neben sich her. In der belebten Straße fällt ihr plötzlich das Schaufenster von dem belgischen Bäcker ins Auge.
»Da haben sie ganz leckeres Gebäck, das kauft unsere Sekretärin immer. Ich hole was zum Mitnehmen, ja?«
Roos zuckt die Achseln und wartet draußen. Suzan studiert das Sortiment. Hat Leida noch ihre eigenen Zähne? Besser etwas nicht zu Hartes kaufen, Madeleines oder Kokosmakronen. Was für ein Theater, ich bin jetzt schon todmüde. Ich wünschte, ich könnte ganz normal mit meiner Tochter umgehen und einfach sagen, was mir gerade einfällt. Sie greift in ihre Tasche, um das Geld hervorzuholen und stößt auf den Zettel, auf dem sie heute Nacht die Patienten notiert hat, nach denen sie sehen musste. Alle, die Dienst haben, laufen mit solchen zusammengefalteten Zettelchen herum, eilig gekritzelten Notizen zu Alter und Diagnose, anästhesiologische Anmerkungen. Nie ein Name, da ist es auch nicht schlimm, wenn so ein Zettel in der Tasche eines weißen Kittels zurückbleibt. Auf der Türschwelle des Bäckerladens blickt sie noch einmal kurz auf den Zettel und muss lächeln, als sie an den jungen Mann mit der Femurfraktur denkt. Bei jungen Menschen heilt alles schnell; die Knochenstücke sind fest zusammengezimmert, das wird schon werden.
Roos wartet ungeduldig bei Suzans Fahrrad.
»Worüber grinst du denn?«
»Ach, nichts. Ich habe etwas von meinem Dienst heute Nacht gefunden. Es passt überhaupt nicht zum Jetzt. Hier auf der Straße, meine ich. Zu dir.«
Jetzt verfinstert sich Roos’ Miene. Bestimmt wieder was Falsches gesagt. Schweigend gehen sie die Straße hinunter, um eine Ecke, durch eine Seitengasse. Nassrasur, das hat was Sympathisches. Besser als so ein summender Apparat, in dem all die ekligen Bartstoppeln drin hängenbleiben; eine Wolke aus dunkelgrauem Staub, wenn das Ding auseinanderfällt. Früher wurden Patienten vor einer Operation von einer Pflegekraft gründlich rasiert. Heute fährt man im Bedarfsfall auf dem Operationstisch kurz mit einer Haarschneidemaschine drüber. Die OP-Schwester klebt Klarsichtfolie auf den Bauch, und dahinein schneidet der Chirurg. Das sieht komisch aus, als schneide er Schinken, der noch eingeschweißt ist. Am liebsten arbeiten sie mit dem Diathermieschneider, der in einem Aufwasch auch die Blutgefäße zuschweißt. Dann breitet sich im Operationssaal der Geruch nach versengtem Fleisch aus. Ein angenehmer Geruch, wie Suzan findet, ein Geruch, der Anstrengung und Konzentration ankündigt. Das ist anomal, bei einem normalen Menschen würde er Brechreiz auslösen. Sie mag diesen Geruch.
Leidas Haus hat einen Vorgarten voll verschiedenfarbiger Hortensien. Suzan denkt: Leidas Haus. Aber es ist das Haus, in dem sie selbst aufgewachsen ist, in dem sie mit Drik, mit ihrem Vater gewohnt hat. Jetzt ist Leida allein dort zurückgeblieben. Ob sie Vaters Räume so gelassen hat, wie sie
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