Die Betäubung: Roman (German Edition)
gehen.
Der Nachtdienst ist turbulent gewesen. Jan-Peter war ihr Assistent. Er kann selbstständig arbeiten, und das war auch nötig. Die beiden Operationssäle waren permanent in Benutzung. Während er einen Kaiserschnitt machte, war sie mit einem riesigen orthopädischen Eingriff befasst. Sie hatte den orthopädischen Chirurgen telefonisch aus dem Bett geklingelt, als ein junger Mann mit Oberschenkelbruch eingeliefert wurde, ein tätowierter Koloss, der kaum auf den Tisch passte. Es war ein einziges Geschiebe und Gezerre, bis sie ihn in der richtigen Position hatten; ehrlich gesagt, sah es ziemlich skurril aus, als er dann mit gespreizten Beinen dalag, die Geschlechtsteile wie auf dem Präsentierteller. Die OP-Schwester legte ein kleines Handtuch darüber. Der mächtige Metallbogen des Röntgengeräts wurde über den Tisch geschoben, und der Röntgenlaborant schloss, auf seinem Rollhocker herumpaddelnd, gähnend den Bildschirm an.
Sie bleibt auf dem Platz vor dem Eingang stehen und reckt sich. Zwei Tage frei. Es ist ein heimlicher Genuss, auf eigenen Beinen aus dem Krankenhaus hinausgehen zu können und die Patienten mit ihren Leiden und Schmerzen innerhalb der Mauern zurückzulassen. Der junge Mann mit dem gebrochenen Bein war nach der Operation kurz wach gewesen und hatte sich vor Schmerzen gekrümmt. Kein Wunder, an ihm war ja herumgehackt und -gehämmert worden wie in einer Schreinerwerkstatt. Operation konnte man es eigentlich nicht mehr nennen, wie da mit Muttern und Bolzen und einer Bohrmaschine zu Werk gegangen wurde, Bauarbeiten traf es schon eher. Der Orthopäde war geschäftig herumgesprungen und hatte den langen Femurnagel durch einen großen Schnitt an die Knochenstücke herangezwängt. Auch als eine Schraube in dem voluminösen Oberschenkel verlorenging, ließ er sich seine sonnige Laune dadurch nicht verderben, sondern suchte mithilfe des Röntgengeräts geduldig nach dem vermissten Gegenstand. Alle trugen Bleischürzen. Immer, wenn man sich erhob, versetzte einem das unerwartete Zusatzgewicht einen kleinen Schreck.
Um die Sicht auf den Bildschirm zu gewährleisten, waren Anästhesie- und Operationsbereich nicht mit einem grünen Tuch, sondern mit einer durchsichtigen Plastikplane voneinander abgeschirmt. Das verstärkte noch den Baustellencharakter. Suzan empfand das als angenehm, denn so gab es keine Aufteilung in vorn und hinten, und sie bildeten ein Team. Der junge Mann verlor literweise Blut, doch das bereitete niemandem Kopfzerbrechen. Gegen Ende des Eingriffs war er so weit vom Tisch gerutscht, dass er ganz hinunterzufallen drohte. Da stemmten der Orthopäde und der Anästhesiepfleger die Schultern unter ihn und bugsierten ihn mit Hauruck wieder in die richtige Position. Zu guter Letzt, als Nagel und Schrauben perfekt saßen, bekundete der Orthopäde seine Zufriedenheit: Für so etwas dürfe Suzan ihn ruhig öfter wecken, das mache er aus reinem Vergnügen. Bevor er ging – er hat sogar ungefragt dabei geholfen, den Patienten aufs Bett zurückzumanövrieren –, hat er allen Beteiligten, die mit ihren Clogs im Blut standen und lachten, gedankt. Es sei ein Fest gewesen.
So ein Chirurg ist eine Wohltat, hat sie gedacht, da lebt man richtig auf. Und was für ein Unterschied zur Herzchirurgie. Die Kardioleute tun immer so ernst und gewichtig. Sie fühlen sich in ihrer Konzentration gestört, wenn gesprochen wird, und haben nur ermahnende Blicke und tödliche Bemerkungen auf Lager. Stundenlang operieren sie, auf ihrem Tritt stehend, feierlich vor sich hin und durchbrechen die Stille höchstens mit einem schroffen Fluch, wenn ihnen eine falsche Zange gereicht worden ist.
In der Fahrradgarage ist es noch kalt. Suzan sucht ihr Rad, legt ihre Tasche in den Korb und fährt hinaus. Eine Viertelstunde in dieser Sonne, und du bist hellwach, denkt sie, der Körper will von Schlaf gar nichts mehr wissen. Trotzdem lieber kurz ins Bett nachher, und sei es nur, um das Gefühl zu haben, dass es eine Nacht gegeben hat. Während ihres Dienstes hat sie nicht länger als eine Dreiviertelstunde gelegen, gegen fünf, am toten Punkt der Nacht, wenn die Noteingriffe gemacht sind und der erste Verkehrsunfall noch kommen muss. In einem seit Jahren nicht renovierten Seitenflügel des Krankenhauses liegen die Schlafzimmer für die diensthabenden Ärzte. Kleine Kabuffs, bedeutend kleiner als eine Gefängniszelle, dienen dem Internisten, dem Neurologen und dem Anästhesisten als zeitweiliger Schlafplatz. In jedem Kabuff
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