Die Betäubung: Roman (German Edition)
sich zu erkundigen, ob ihr Vater seine Sommergrippe überstanden hat, reizt sie auch nicht gerade. Tante Leida müsste sie dringend mal besuchen, die kam immer zu kurz. Wenn du nicht krank bist und nicht klagst, besucht dich niemand, so ist es doch. Ich jedenfalls nicht, ich werde nur aktiv, wenn jemand Hilfe benötigt. Jetzt habe ich auf so viele Leute einfach keine Lust, gibt es denn gar niemanden, den ich gern sehen würde?
Doch, natürlich. Ich schaue einfach kurz bei ihr vorbei. Wenn sie nicht da ist, fahre ich weiter, zu Simone oder ins Schuhgeschäft. Wenn sie da ist, lass ich mich überraschen, mal sehen, wie es läuft. Ich nehme nichts mit. Ich schaue nur mal rein.
Das Haus, in dem Roos wohnt, wird von der Mittagssonne beschienen. Ein Fenster ist hochgeschoben, Roos lehnt über dem Sims, ihr dunkler Lockenschopf fünf Meter über der Straße. Suzan legt den Kopf in den Nacken und betrachtet ihre Tochter. Roos raucht eine Zigarette.
»Ich mach auf, warte!«
Der Kopf mit der Zigarette verschwindet, Suzan schließt ihr Fahrrad ab und wartet vor der Tür. Ein Trommelwirbel auf der Treppe, Gefingere am Schloss, ein Fluch. Und dann das Kind.
»Hallo, Mam.«
Nichts über das Rauchen sagen. Kinder, die zu Hause ausgezogen sind, machen alles Mögliche, was den Eltern nicht gefällt. Wenn du nichts davon wissen willst, darfst du nicht herkommen. Sie hat aufgemacht, sie steht vor dir. Nerv sie jetzt nicht mit der Frage, ob sie denn keine Vorlesung hat. Frag nichts. Aber was soll ich denn dann bloß sagen?
»Ich hab die Augen aufgeschlagen und gedacht: Ich schau mal eben bei dir rein. Vielleicht ein paar Blumen kaufen, für dein Zimmer?«
»Komm doch kurz mit rauf.«
Roos fliegt schon die Treppe hinauf. Sie hat alte, selbst gestrickte Wollsocken an und ein kariertes Flanelloberhemd.
»Möchtest du einen Tee? Ich habe gerade welchen gemacht.« Sie hebt eine große Teekanne hoch und gießt zwei Gläser voll. Auf dem Tisch ist kaum noch Platz, alles liegt voller Bücher und Papiere. Es zieht. Durch den Luftzug schlägt die Badezimmertür auf. Das Licht über dem Waschbecken ist an, Suzan sieht einen Rasierpinsel auf der Glasplatte unter dem Spiegel. Ein Rasierpinsel! Sag jetzt nichts darüber, du hast dich bestimmt geirrt. Die ganze Nacht wach gewesen, da sieht man schon mal was, was gar nicht da ist.
»Schöne Musik hast du an.«
Roos nickt. »Quintette von Mozart. Mit zwei Bratschen. Gut, nicht?«
Suzan spürt, wie sich ihre Schultern entspannen. Ein bisschen. Was sagte Drik immer? Wenn du schweigst, gibst du dem anderen die Gelegenheit, etwas zu sagen.
Sie sieht Roos freundlich, aber schweigend an. Roos ordnet die Papiere und stapelt die Bücher aufeinander.
»Ich muss ein Referat schreiben. ›Wie hat sich die Haltung zur Partizipation von Frauen am Berufsleben in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gewandelt?‹ Also viel Feminismusgelabere und so. Darauf hatte ich keine besondere Lust. Deshalb haben wir das Thema innerhalb meiner Arbeitsgruppe aufgeteilt. Einer von den Jungs macht den Feminismus, und eine Freundin von mir macht die Männer. Was die davon hielten. Ich möchte so was wie ein Porträt machen, zur Illustration, wie es konkret aussah. Ein Interview mit einer Frau aus der Zeit.«
»Gute Idee. Und effizient, das Ganze aufzuteilen.«
Suzan lacht. Roos sieht sie misstrauisch an.
»Du denkst bestimmt, ich kann nicht wissenschaftlich arbeiten und entscheide mich deswegen für etwas Journalistisches. Klar, was wir machen, ist natürlich was ganz anderes als bei dir, bei euch mit euren Versuchsanordnungen und eurer statistischen Signifikanz. Aber ich kann das sehr wohl. Wir lernen das.«
»Ich mache überhaupt keine wissenschaftliche Forschung«, erwidert Suzan betroffen. »Ich müsste eigentlich, alle Kollegen machen irgendetwas Wissenschaftliches, aber ich nicht.«
»Journalismus macht Spaß, ich würde gerne Journalistin werden. Deshalb habe ich mir das ausgedacht.«
Sag jetzt nicht, dass es gute Kurse für Wissenschaftsjournalismus gibt. Das wird sie schon selbst herausfinden. Oder sie weiß es bereits. Ein Rasierpinsel! Sie hat einen Freund, der bei ihr schläft und sich vor ihrem Spiegel rasiert. Der hier zu Hause ist. Ich weiß nicht mal, wo sie ihre Handtücher aufbewahrt.
»Weißt du schon, wen du interviewen wirst?«
»Ich hab gleich eine Verabredung. Mit Oma Leida. Sie findet das ganz toll.«
Die gehört mir , denkt Suzan perplex. Aber sie hat sich schnell wieder im
Weitere Kostenlose Bücher