Die Betäubung: Roman (German Edition)
darüber nachdenkst, kommen dir auch Ideen.«
Der Krankenhauskoloss liegt in seiner ganzen Breite vor ihnen. Er hat leicht reden, denkt Suzan. Ich werde schon müde, wenn ich nur an die Organisation so eines Projekts denke. All die Kollegen auf eine Linie zu bekommen, die Beratungen, die Einwände, die es geben wird, das Gemurre wegen der Kosten und des Aufwands.
Sie nehmen den Hintereingang, und Vereycken hält ihr die Tür auf. Im Fahrstuhl stehen sie einander gegenüber. Er lacht.
»An der frischen Luft denkt sich’s am besten. Sauerstoff. Jetzt unterwerfen wir uns wieder der Abteilungsdisziplin. Was machst du heute Nachmittag?«
»Ich unterrichte, erstes Weiterbildungsjahr. Wie ein peripherer Zugang und ein zentralvenöser Katheter gelegt werden.«
Vereycken nickt. »Ich lasse dir einen Artikel zukommen, darin sind alle Untersuchungen zur awareness zusammengefasst. Die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, würde ich gern hier bei uns überprüfen. Der merkwürdigste Befund ist wohl, dass Patienten, die während der Operation wach werden, klar bei Bewusstsein sind und unerträgliche Schmerzen leiden, geringere Probleme damit haben als diejenigen, die wohl nur halb zu Bewusstsein kommen – die denken nämlich, dass sie verrückt werden, die haben keinen Bezug zur Wirklichkeit. Wer Schmerzen spürt, weiß, dass es wahr ist, der braucht nicht zu zweifeln. Es ist zwar die Hölle, aber er trägt keine Belastungsstörungen davon, die anderen dagegen schon.«
Drik hat also doch recht, denkt Suzan. Dies ist der Beweis. Wenn jemand fühlen kann, was eigentlich in ihm vorgeht, und wenn es noch so schrecklich ist – Kummer, Wut, Machtlosigkeit und was einem sonst noch alles das Leben schwermachen kann –, dann hilft ihm das, sich besser zu fühlen als zuvor, als er es mit aller Macht aus seinem Bewusstsein verdrängt hat. Er fühlt sich wieder ganz. Er steht mitten in der Realität. Er ist geheilt.
Im Grunde ist ihr das völlig unverständlich. Was sie anstrebt, ist die Betäubung. Wo sie Schmerzen vermutet, ist sie mit Opiaten zur Stelle. Sie betäubt die Nervenbahnen, über welche die Schmerzreize zum Cortex schnellen, würde sie sogar eher zerstören, als zuzulassen, dass der Reiz dort oben in den Gehirnwindungen in eine Wahrnehmung umgesetzt wird. Dass es einem Menschen guttun soll, zu wissen, wie er leidet, ist ihr ein Rätsel.
Das Gespräch hat sie verunsichert. Sie möchte nichts davon wissen, dass die Menschen, die sie unter ihrer Obhut hat und sorgfältig betäubt, womöglich insgeheim doch mitbekommen, was mit ihnen geschieht, wenn die OP-Leuchten eingeschaltet sind, wenn alle sich ihren Mundschutz vorgebunden haben und der Chirurg um das Skalpell bittet.
Vereycken sieht sie ermunternd an. Die Fahrstuhltüren öffnen sich.
»Wir wissen noch so wenig«, sagt er. »Wie das Gedächtnis funktioniert. Was wir meinen, wenn wir von Erinnerung sprechen, wie wir die Erfahrungen aus unseren ersten Lebensjahren speichern, der Zeit, da wir noch keine Sprache zur Verfügung hatten. Es gibt noch eine ganze Welt zu entdecken. Dazu kannst du etwas beitragen.«
Sie wäre gern skeptisch, würde gern intelligente Einwände gegen seine Argumentation vorbringen, die ihrem Empfinden nach zu sehr verallgemeinert, zu sehr von seinem wissenschaftlichen Eroberungsdrang gefärbt ist. Aber sie fühlt sich ertappt, zum kleinen Mädchen gemacht. Sie kennt ihre Vergangenheit nicht, weiß Gott sei Dank nichts von den Verzweiflungsszenen, die sich in ihrer frühen Kindheit abgespielt haben dürften. Ein wütend kreischendes Baby muss sie da gewesen sein, ein Baby, das in den steifen Armen Leidas apathisch wurde, ein Kindchen, dem etwas fehlte, was es aber nicht benennen und schließlich nicht mehr fühlen konnte. Nein. Besser so, wie sie es macht. Als ob Drik so glücklich wäre mit seiner Analysiererei. Das klingt alles großartig, vielleicht sogar plausibel, aber es ist völlig aus der Luft gegriffen. Sie ist die Betäubungsspezialistin. Durch die Untersuchung, die Vereycken ihr aufdrängt, kann sie ihre Betäubungskunst vervollkommnen.
Livia kommt ihnen aus ihrem Büro heraus entgegen. Sie sieht etwas verstört aus.
»Ach, wie gut, da sind Sie ja wieder. Ihr nächster Termin wartet. Ein Allard Schuurman hat angerufen. Er kann tatsächlich zum ersten September anfangen, sagt er. Soll ich schon mal einen Vertrag aufsetzen?«
»Ja, gern, Livia. Drei Monate Probezeit. Lass es mich anschließend kurz lesen.«
Er wendet
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