Die Betäubung: Roman (German Edition)
Entwicklung eines stärkeren Teamgefühls stimulieren?«
»Man sollte von dem ausgehen, was man hat, was schon da ist. Die Operateure ins Trainingsprogramm einbeziehen, auch wenn es Geld kostet. Man bekommt es wieder zurück, es ist eine lohnende Investition.«
»Würdest du in diesem Programm eine leitende Funktion übernehmen?«
»Ich denke nicht daran. Bram macht das hervorragend. Wenn du noch jemanden zusätzlich einspannen willst, würde ich einen Kollegen nehmen, der sich schwer damit tut. Der kann sich gut in die Chirurgen hineinversetzen – mangelnde Begeisterung, kein Sinn für Flachsereien. Da schlägt man dann zwei Fliegen mit einer Klappe.«
Vereycken nickt anerkennend.
»Ein unorthodoxer Ansatz. Werde ich mir überlegen. Wir brauchen keine Namen zu nennen. Ich begreife, was du meinst. Bemerkenswert.«
Er erhebt sich und schaut aus dem Fenster.
»Wohltuend, diese Aussicht. Sie spendet Ruhe. Wir könnten ein wenig durch den Park spazieren, hast du Lust?«
In ihren weißen Kitteln wandern sie über die mit Rindenmulch bedeckten Pfade. Die meisten Stauden sind verblüht, und am Rand der Wasserläufe ragt vertrocknetes Schilf auf. Vereycken keucht.
»Du hast aber ein Tempo drauf. Komm, setzen wir uns kurz.«
Auf einem Baumstamm sitzend, streckt Suzan die Beine aus. Wenn man einander nicht anzusehen braucht, kann man leichter reden, findet sie.
»Wenn ich dich recht verstehe, möchtest du mich also gern noch etwas Zusätzliches machen lassen. Neben dem Unterricht.«
»Ja. Mir ist daran gelegen, dass alle meine Fachärzte ein spezifisches Interessengebiet, eine besondere Aufgabe haben oder sich der Forschung widmen. Die Abteilung heißt Anästhesiologie, das riecht doch nach Wissenschaft, nicht wahr? Wir haben zwar Wissenschaftler im Dienst, aber ich finde, dass wir selbst auch Forschung betreiben sollten. Hast du schon einmal daran gedacht?«
»Simone promoviert. Ich will nicht so hoch hinaus, das reizt mich nicht. Ich mag die normale Arbeit, was soll es da zu erforschen geben?«
»Denk mal etwas besser nach. Daran lässt sich alles Mögliche erforschen. Als universitäre Einrichtung sind wir auch dazu verpflichtet.«
Lass ihn jetzt bitte nicht sagen, dass wir ein center of excellence sind, denkt Suzan, ich hasse diese großkotzigen Worthülsen. Was er über die Rollenverteilung im OP gesagt hat, spricht mich schon an, ja, wir haben die Rolle der Gastgeber. Man empfängt seine Gäste wohlwollend, man bespricht, was sie gerne hätten, und sorgt dafür, dass es ihnen an nichts fehlt. Im Rahmen des Möglichen, wie er immer sagt. Wir sollten die Chirurgen empfangen, als führten wir ein Sterne-Restaurant, in dem Bewusstsein, dass die Küche uns gehört und niemandem sonst.
Vereycken spricht unterdessen von Forschungszielen und -ergebnissen. Sie muss besser zuhören. Was will er eigentlich?
»Worauf bist du neugierig? Was möchtest du von einem Patienten wissen, bei dem du eine Narkose gemacht hast?«
Er wendet das Gesicht Suzan zu und kann auf dem dicken Baumstamm nur mit Mühe das Gleichgewicht halten.
»Wie spät ist es? Das will ich von ihm wissen, gleich, wenn er wach wird, noch auf dem Tisch. Dann darf natürlich keine Uhr in seinem Blickfeld sein. Ich möchte wissen, ob er ein Gefühl dafür hat, wie viel Zeit vergangen ist. Und falls nicht, ob das mit der Narkosetiefe oder der Dauer des Eingriffs zusammenhängt. Ich habe noch nie etwas darüber gefunden.«
Sie sieht Vereyckens Gesicht an, dass er das Gespräch gleich in andere Bahnen lenken wird.
»Ich dachte an etwas anderes«, sagt er. »In den letzten Jahren wird regelmäßig über unschöne Zwischenfälle während Operationen publiziert, die sich leider immer erst hinterher herausstellen: Dass Patienten während des Eingriffs aus der Narkose erwachen. Stell dir das mal vor – das Bewusstsein ist da, der Patient nimmt etwas wahr, aber er ist gelähmt, er hat Muskelrelaxanzien bekommen und kann sich nicht bewegen, nicht stöhnen, nichts! In der Hälfte der gemeldeten Fälle verspürt der Patient auch Schmerzen. Starke Schmerzen. Das ist ein Katastrophenszenario, der blanke Horror! Es passiert vor allem während Operationen, bei denen die Narkose so leicht wie möglich gehalten wird: Kardio, Geburtshilfe. Der Prozentsatz der Fälle ist zwar äußerst niedrig, aber dennoch. Patienten leiden in der Folge unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Sie schlafen nicht mehr, sie haben Angst und furchtbare Albträume. Ob es bei uns in
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