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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Scheißfoto richtig schick aus. Es war nicht zu übersehen – da stand ein gemachter Mann.
    Er schießt an dem Traktor vorbei und hustet dem verdutzt blickenden Bauern einen Schwall Auspuffgase ins Gesicht. Wenn die alle wüssten! Hinter dieser gebildeten, teilnahmsvollen Fassade verbirgt sich ein Wrack von einem Therapeuten. Ein Analytiker, dem es bei einem seiner Patienten neun Monate lang nicht gelungen ist, ein solides Arbeitsbündnis zustande zu bringen. Der neun Monate lang im gleichen Trott weitergemacht, gedeutet und die Deutungen wieder zurückgenommen hat, gewarnt und wieder beschwichtigt hat. Alles ohne Wirkung. Er haut frustriert aufs Lenkrad und erschrickt zu Tode, als die Hupe losgeht.
    Ein agierender Patient, einer, der vor deinen Augen sein Leben ruiniert, ohne dass du eingreifen kannst, das ist ein Albtraum. Ach, mach nicht so ein Drama draus, denkt Drik. Du hast getan, was du konntest. Die Angst angesprochen. Die unbewussten Sehnsüchte angetippt. Die Übertragung benannt, damit das im Raum steht und man darüber reden kann und der Patient seine Konflikte nicht mehr in der Welt außerhalb des Sprechzimmers auszuleben braucht. Es hatte zwar alles keinen Sinn, aber du hast dein Bestes gegeben. Wahrscheinlich war die Indikation falsch, und dieser Junge kann gar nicht von einer Therapie profitieren, die zu Einsichten verhilft. Du hättest ihn an jemanden überweisen sollen, der kognitive Verhaltenstherapie macht. Die soll ja gegen alles helfen, wenn man der Presse glauben darf. Ließe sich nach wie vor machen. Aber er ist ja nicht mehr in der Psychiatrieausbildung, er braucht überhaupt keine Therapie mehr zu machen! Er kann gehen!
    Ihm ist, als breche plötzlich die Sonne durch. Warum hat er nicht gleich daran gedacht? Offenbar ist er so sehr mit Allard befasst, dass er ihm wie selbstverständlich bei seiner spontanen Kursänderung folgen will, als sei er dafür verantwortlich.
    Er fährt langsamer. Es ist auch seine Schuld. Wenn er es verstanden hätte, an den Jungen heranzukommen, wäre das nicht passiert. Jetzt hat Allard seinen Weiterbildungsplatz verspielt und begibt sich in ein ungewisses Abenteuer. Anästhesie! Ein Unterschlupf für die Neurose! Allard braucht sich nicht mehr mit seiner Angst auseinanderzusetzen, sondern kann sie mit Betäubungstechniken schön fest zudecken. Er kann sich mit Dingen wie Atemwegssicherung und Transfusionsmethodik befassen und muss nie mehr über Gefühle nachdenken.
    »Ich möchte gern weiterhin kommen«, sagt Allard. »Vorläufig. Aber ich bekomme dafür natürlich nicht frei. Könnten wir eine andere Zeit vereinbaren?«
    Sei großzügig, denkt Drik, du bist doch heilfroh, dass er nicht gleich abhaut. Am früheren Vormittag ist keine Option, die Leute fangen ja schon um halb acht zu arbeiten an.
    »Um sechs Uhr abends, ginge das? Dann könnten wir bei Montag bleiben.«
    Allard nickt und notiert es in seinem Terminkalender.
    »Da du jetzt nicht mehr in der Psychiatrieausbildung bist, bekommst du die Therapie nicht mehr von der Klinik bezahlt. Wie bist du versichert?«
    »Ich zahle das aus eigener Tasche. Ich möchte nirgendwo als Therapiepatient registriert sein.«
    »Ich muss aber eine Datei über Diagnose und Behandlung für dich anlegen. Selbst wenn du privat bezahlst, bin ich verpflichtet, diese Daten ans zentrale Erfassungssystem weiterzuleiten, so widersinnig das auch ist.«
    Allard bleibt kurz still.
    »Interessant. Und welche Diagnose werden Sie eingeben?«
    Tja, da trifft er den Nagel auf den Kopf. Angstneurose? Persönlichkeitsstörung? Berufliche Probleme, das geht fast immer, aber dann ziehe ich mich allzu bequem aus der Affäre. Meine Patienten passen ja meistens nicht in die vorgegebene Klassifikation, ich denke mir laufend irgendetwas aus.
    »Was würdest du selbst vorschlagen?«
    »Ich mache da nicht mit, nicht mal spaßeshalber. Ich will das nicht. Man sollte nie an solchen undurchsichtigen Systemen mitarbeiten. Die elektronische Patientenakte habe ich auch abgelehnt. Man hat doch keinerlei Garantie, dass vertraulich damit umgegangen wird. Irgendwelche Buchhalter und Tippsen in Büros unseres Gesundheitswesens gehen meine Diagnosen überhaupt nichts an. Ich verstehe nicht, dass Sie bei diesem Mist mitmachen. Das enttäuscht mich schwer, wirklich.«
    »Ich muss wohl oder übel. Nein, das ist nicht wahr. Ich habe mich letztlich dafür entschieden, weil die meisten Patienten ihre Versicherung in Anspruch nehmen möchten. Das steht ihnen auch zu.

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