Die Betäubung: Roman (German Edition)
der Klinik auch vorkommt, weiß ich nicht. Statistisch gesehen, müsste es schon so sein. Vorigen Monat erst hörte ich so etwas von Bibi, es betraf einen kleinen Jungen. Er wiederholte Sätze, die er nur während der Narkose gehört haben konnte. Sie hat ihn gefragt, ob er Schmerzen gehabt habe, aber daran erinnerte er sich nicht.«
Suzan versucht es sich vorzustellen. Dass man daliegt, auf diesem schmalen Bügelbrett, die Arme in den Armstützen, die Augen zugeklebt. Sie sägen einem den Brustkorb auf, man hört das Krachen, wenn der Rippenspreizer betätigt wird, man weiß, dass der Körper offen ist. Jemand sagt: »Du kannst dann gleich mal kurz weg, Sjoerd, im Kaffeeraum steht Suppe.« Vielleicht spürt man das von den Opiaten zugedeckte Vorhandensein von Schmerzen. Man möchte dem Anästhesisten zuschreien, dass er die Propofolgabe erhöhen, schnell noch einmal Fentanyl spritzen soll. Bitte, schau doch her, warum siehst du denn nicht, dass hier etwas überhaupt nicht in Ordnung ist!
»Wie oft kommt das vor?«, fragt Suzan.
»Selten. Bei schätzungsweise 0,2 Prozent, bei Herzoperationen etwas häufiger, da sind es vielleicht sogar 2 Prozent. Aber das ist über den Daumen gepeilt. Für genauere Untersuchungen braucht man eine enorm große Zahl operierter Patienten.«
»Dann kommt das für uns doch gar nicht in Frage, oder? Wir operieren zwar viel, aber niemals genug für so etwas.«
Vereycken findet das kurzsichtig. Wenn alle Krankenhäuser vergleichbare Untersuchungen anstellten, aufeinander abgestimmt, so dass man die Ergebnisse zusammenführen könnte, würde man sehr wohl sinnvolle, statistisch signifikante Ergebnisse erhalten. Auch da wieder das Teamdenken, konstatiert Suzan. Darauf ist er richtig versessen. Nichts, was man allein unternimmt, kann etwas taugen. Meine Untersuchung zum Zeitgefühl kann ich wohl in den Wind schreiben.
Vereycken erhebt sich und klopft sich die Baumrinde von der Hose. »Lauf bitte nicht wieder so schnell, Suzan, ich bin ein alter Mann. Wir kommen noch früh genug an unsere Wirkungsstätte zurück.«
Soll ich ihm meinen Arm anbieten, doch wohl nicht, oder? Er ist zu dick, er müsste was dagegen tun. Kleine Schritte. Pass dich an.
»Ich habe vorhin vom Konzertmeister gesprochen, aber man könnte vielleicht besser an ein Streichquartett denken, wenn es um ein Operationsteam geht. Der Operateur ist natürlich der Primarius, der hat das schwierigste Kunststück zu vollbringen. Aber wenn das Cello keine volle, reine Basslinie darunter spielt, klingt es nach nichts! Dank des Cellos kann die erste Geige glänzen. Das ist doch ein schöner Vergleich, findest du nicht?«
Suzan nickt.
»Ich gehe nämlich immer in die Reihe der Streichquartette«, erklärt Vereycken seinen Vergleich. »Da achte ich vor allem auf das Zusammenwirken. Wie man einander Raum gibt. Acht gibt, folgt. Sehr lehrreich.«
»Und schön, hoffe ich. Die Musik. Man könnte meinen, du bist permanent mit unserem Fachgebiet beschäftigt.«
»Und ob«, bestätigt Vereycken. »Unser Fachgebiet bereitet mir Vergnügen. Wie es expandiert! Wie rasch es sich entwickelt, unglaublich. Kein Wunder, dass die Kollegen der anderen Disziplinen Mühe haben, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Es gelingt uns ja selbst kaum. Ich betrachte es als meine Aufgabe, den Fortschritt noch zu stimulieren. Wir sollten uns mit der Vorreiterrolle identifizieren. Deshalb wollte ich mit dir reden. Denk mal über meinen Vorschlag nach.«
»Eine postoperative Sprechstunde«, sinniert Suzan. »Jeder Patient, der eine Vollnarkose bekommen hat, sollte zwei Wochen nach der Operation den Anästhesisten sehen. Ein Gespräch anhand eines standardisierten Fragebogens.«
»Dabei können dir die Psychologen unter die Arme greifen«, sagt Vereycken enthusiastisch. »Die formulieren sehr gute, objektive Fragen.«
»Man muss Daten über den Patienten haben: Alter, Gewicht, Disposition, Art des Eingriffs und so weiter. Und Daten über die jeweilige Anästhesie: Dauer, Medikation, Blutdruck, Sauerstoffsättigung – alles, was routinemäßig aufgezeichnet wird. Das muss eine gewisse Uniformität haben. Man sollte am besten gleich im Aufwachraum fragen, wie es war. Und das Gespräch dann einige Zeit später führen.«
Wer weiß, vielleicht kann ich meine Frage nach dem Zeitempfinden ja auch irgendwie darin unterbringen. Nun hat er es tatsächlich verstanden, mich dafür zu begeistern, wie macht er das bloß?
»Siehst du, Suzan, wenn du erst mal
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