Die Betäubung: Roman (German Edition)
angespornt, wieder arbeiten zu gehen?«
Leida verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre in dicke, fleischfarbene Strümpfe verpackten Beine stehen ordentlich nebeneinander auf dem Boden.
»Ach, Hendrik. Er ist mein Bruder, ich würde ihn niemals im Stich lassen. Aber ob das andersherum auch so wäre? Ich will es mal so sagen: Er hat sich seit dem Unglück stark verändert. Er war danach nicht mehr imstande, etwas mit euch aufzubauen. Der Anblick kleiner Kinder machte ihn krank. Was ihn am Leben hielt, waren seine Arbeit, sein Studierzimmer, seine Dienstreisen. Sein privates Leben hörte auf, als Fenny starb.«
Fenny, denkt Drik, das ist meine Mutter. Niemand sagt je ihren Namen. Fenny. Hier spricht eine, die weiß, wie ihre Stimme klang, wie sie sich bewegte.
»Ich habe Hendrik im letzten Winter besucht.«
»Und, hat er dich erkannt?«
»Anfangs nicht. Erst als ich gehen wollte, begriff er, wen er vor sich hatte. Das war kein sehr schönes Gefühl für mich. Wir haben einen Spaziergang gemacht. Ich komme jetzt darauf, weil er anfing, von dem fatalen Urlaub damals zu reden. Weißt du eigentlich, wie es genau passiert ist?«
Es hat den Anschein, als verschließe sich Leidas Gesicht.
»Nein. Hendrik wollte nie darüber reden. Ich weiß, dass er anfangs verdächtigt wurde, Fenny von den Felsen gestoßen zu haben. Das hat ihn ganz aus der Fassung gebracht. Ich glaube, die Polizei muss das immer untersuchen, das ist Routine. Die meisten Verbrechen werden von nahen Angehörigen begangen. Aber er hat sehr darunter gelitten.«
»Was meinst du, könnte es sein, dass er es getan hat?«
»Aus Wut? Er hatte schon als Kind unkontrollierbare Wutausbrüche. Und er hatte Schwierigkeiten damit, dass Fenny so in den Kindern aufging. Wenn ein Kind geboren wird, verschiebt sich vieles. Das ist für einen Mann nicht so einfach. Er liebte Fenny von ganzem Herzen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass er sie ermordet hat. Oder besser gesagt: Ich könnte es mir schon vorstellen, aber ich glaube nicht, dass es so war. Fenny war nicht sehr sportlich, weißt du. Es kann gut sein, dass sie aus eigener Schuld runtergestürzt ist.«
Was für ein idiotisches Gespräch, denkt Drik. Was suche ich hier eigentlich? Leida ist eine beschränkte Frau, einsam, eigen. Sie hat uns mit strenger Hand aufgezogen, ohne Nähe, als hätte sie Angst davor gehabt, sich an uns zu binden. Das hat uns beide gezeichnet.
»Ein Fluch«, murmelt Leida, während sie mit einer Gießkanne die Pflanzensammlung auf der Fensterbank durchgeht, Rücken gerade, Beine stramm. Sie drückt die Gießkanne an die Brust und wendet das Gesicht Drik zu.
»Ein Fluch für die Familie. Es gibt zu wenige Kinder. Ich bin natürlich kinderlos, du hast keine Nachkommen, und Suzanne hat nur Roos. Die Familie stirbt aus, wir sind verdammt. Ist vielleicht sogar gut so. Du bist genauso ein Choleriker wie dein Vater. Du kannst es gut verbergen, aber ich habe es gesehen.«
Meint sie etwa, dass ich ein potenzieller Mörder bin? Was geht eigentlich in ihrem Kopf vor? Meine Kinderlosigkeit ist ganz allein meine Sache, was erlaubt sie sich! Und wieso höre ich mir das überhaupt an?
Leida sitzt wieder, mit der Gießkanne auf dem Schoß.
»Fennys Unfall hat einen Schatten über alles geworfen, was danach kam. Wir gehen keine Bindungen mehr ein. Wir haben Angst vor dem Verlust. Daher wollen wir uns auch nicht fortpflanzen. So denke ich darüber. Ein Fluch. Aber es ist sehr nett von dir, dass du mir dieses Buch mitgebracht hast. Jetzt geh lieber wieder, es wird mir zu lang.«
Ein wenig verdattert verabschiedet sich Drik. Es fühlt sich an, als verließe er das Haus einer Hexe, als wäre er ihr im allerletzten Moment entkommen. Kopfschüttelnd radelt er davon.
In der darauffolgenden Woche kommt Allard um sechs Uhr abends. Drik hat den ganzen Tag über Patienten empfangen. Er ist müde, möchte ein Gläschen trinken, schlurft aber pflichtgetreu zur Tür, als es klingelt. Energiegeladen marschiert Allard den Flur hinunter. Sowie er sitzt, beginnt er zu reden, lächelnd, lebendig, heiter. Drik unterdrückt einen Seufzer.
»Was für ein Tag! Toll! Die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Total anders als die Psychiatrie, überhaupt kein Vergleich. Ich wusste nicht, dass es das gibt, wirklich nicht.«
Idealisierung, denkt Drik. Er macht das Gleiche wie bei der vorherigen Stelle, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
»Was ist denn deinem Empfinden nach so anders?«
»Klarheit. Man weiß,
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