Die Betäubung: Roman (German Edition)
Dringlichkeit von Allards Erzählung lässt ihn davon absehen.
»Die Nacht vergeht in Windeseile, man weiß gar nicht, wie spät es ist. Man trinkt Kaffee oder isst etwas, und dann macht man wieder weiter. Suzan ging zu einer Lungenoperation, und ich machte eine Kieferfraktur. Einleitung ohne Supervision, wohlgemerkt! Es war eine Zeitlang sehr hektisch, ich rief sie im anderen OP an, wenn ich etwas fragen wollte. Beides waren hoffnungslose Fälle. Ihrer war voller Tumoren, meiner hatte eine irreversible Hirnverletzung. Ich sah den Patienten später im Aufwachraum, er war verwirrt und delirant. Der Kaiserschnitt lag auch noch dort, die Frau hatte starke Blutungen. Der Gynäkologe war bei ihr. Nichts lief glatt in dieser Nacht.
Wir wurden von der Notaufnahme angepiepst, wo ein bewusstloser Mann eingeliefert wurde. Vollkommen unklar, wieso und warum. Keinerlei Angaben. Er atmete nur ganz schwach, Suzan intubierte ihn. Seine Kinder waren dabei, sie hatten ihn gefunden. Ob er trinke, Medikamente nehme, abhängig sei? Sie waren empört, wie wir auf so etwas kämen, so sei ihr Vater ganz und gar nicht, ihr Vater sei heiter und fröhlich und immer unternehmungslustig. Wir fuhren ihn noch zu einem Scan nach oben, es konnte ja sein, dass er eine Gehirnblutung hatte. Der Radiologe konnte nichts finden. Der Neurologe auch nicht. Dann kamen die Ergebnisse vom Intoxikationsscreening: Alkohol, Opiate, genug, um zu sterben. Suzan gab gleich ein Gegengift. Schließlich und endlich standen wir wieder allein davor. Wenn die Spezialisten nichts finden, was ihre Hausnummer ist, drehen sie sich um und sind weg. Die überlegen nicht mal kurz mit oder so. Inzwischen waren Stunden vergangen, und wir wussten immer noch nichts. Der Mann begann sich zu bewegen. Der Tubus konnte raus, er atmete. Also hatten wir unseren Part erledigt. Auf die Intensivstation, dachten wir. Seine Kinder trotteten hinter dem Bett her, noch immer verdattert. Ein Scheißgefühl hatte ich dabei.«
»Was dachtest du?«
»Hausarzt anrufen. Psychiatrie kommen lassen. Ich war froh, dass ich nicht der diensthabende Psychiater war. Ich dachte über diesen Mann nach: Da nimmt man seinen ganzen Mut zusammen, schluckt die Tabletten, wartet. Und dann wacht man auf und hat einen Schlauch im Arm, am Bett stehen die vorwurfsvollen Kinder, und neben ihnen irgend so ein Hansel mit Notizblock, der sagt, er sei Psychiater, und wissen will, warum man Selbstmordgedanken hatte. Ich wollte nicht dabei sein, wenn er wirklich zu sich kam. Suzan war auch angeschlagen. Es stand nichts mehr auf der Liste, wir konnten kurz schlafen gehen.«
Bis jetzt konnte Drik mühelos Blickkontakt mit Allard halten und fühlte sich von dessen Geschichte mitgerissen. Nun schleicht sich etwas Ausweichendes in den Blick des Jungen, und seine Bewegungen wirken gekünstelt. Er reibt sich das Kinn, setzt sich anders hin und starrt auf den Boden. Drik wartet.
»Wir gingen zu den Bereitschaftszimmern. Wir waren beide still. Eine schreckliche Vorstellung, dass es jemandem so schlecht geht, dass er sich das Leben nehmen will. Wir hatten unsere Arbeit gut gemacht, aber aus medizinischer Sicht war in dieser Nacht alles misslungen. Ein totes Baby, unheilbar kranke Patienten, ein Selbstmordversuch. Ich legte den Arm um Suzan, ich wollte sie trösten.«
Driks Denkvermögen setzt komplett aus. Das Bild seiner zierlichen Schwester in Allards Armen, wie sie langsam durch einen spärlich erleuchteten Flur gehen, um … Bloß nicht daran denken, wohin die beiden gehen.
»Wir gingen in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür hinter uns ab. Wir sagten nichts. Ich umarmte sie. Um sie zu trösten.«
Er spricht fast unhörbar leise. Drik drückt sich in seinen Sessel. Allard räuspert sich und setzt sich gerade auf.
»Ich, äh … wir … wir haben miteinander geschlafen. Waren miteinander im Bett, ja. In diesem komischen Kabuff. Ich sag es jetzt einfach. Das darf natürlich nicht sein, als Assistent mit der Supervisorin. Deswegen meine ich.«
Halt den Mund, denkt Drik, halt einfach den Mund. Bevor du es noch schlimmer machst. Herrgottverdammtnochmal.
»Als wir in diesem Jugendherbergsbett lagen, war sie nicht meine Supervisorin. Sie ist der Wahnsinn. So schön. Ich wusste, was sie empfand. Ich empfand es genauso. Es war gut. Phantastisch war es. So etwas Besonderes kann ich nicht bedauern. Ich bin vielmehr sehr glücklich darüber. Obwohl ich weiß, dass Sie das missbilligen.«
Eine Einladung, denkt Drik mit dem Bruchstück
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