Die Betäubung: Roman (German Edition)
In den Ferien hatten Peter und Suzan manchmal Freundinnen von Roos mitgenommen, die aber Heimweh bekommen hatten und vorzeitig von genervten Eltern wieder abgeholt werden mussten. Eine richtige Familie wäre besser gewesen, für uns alle. Außer für das Kind selbst, denn das hätte jetzt keine Mutter mehr gehabt.
Roos schwatzt weiter. Sie beklagt sich. Immer Schuldgefühle, wenn sie keine Lust hat, zu den Geburtstagen nach Hause zu gehen. Nie mit jemandem darüber witzeln zu können.
»Du bist fast zwanzig, da brauchst du wegen deiner Abnabelung keine Schuldgefühle zu haben«, sagt Drik entschieden. »Deine Eltern mögen ihre Schwierigkeiten damit haben, aber das ist ihre Sache, das braucht dich nicht zu kümmern.«
»Peter ist viel zu lieb, der sagt, dass er alles okay findet, aber ich spüre einfach, dass es nicht wahr ist. Mama verhält sich komisch. Sie merkt sich nie, was ich ihr erzählt habe. Sie tut, als gäbe es mich gar nicht mehr. Oder etwa nicht?«
»Ich glaube, dass du ihr fehlst. Dass sie nicht so recht weiß, wie sie damit umgehen soll. Sie muss sich daran gewöhnen, genau wie du.«
Suzan ist gestört, denkt Drik, aber darüber werde ich jetzt nicht reden. Sie bäumt sich mit einer Tochterimitation gegen den Verlust ihrer Tochter auf und benimmt sich wie ein zwanzigjähriges Mädchen, ohne sich zu fragen, was sie damit erreichen oder ungeschehen machen will.
»Kommst du zu unserer Aufführung? Wir müssen alle beim Kartenverkauf helfen, sonst kriegen wir den Saal nicht voll. Möchtest du?«
»Ich komme sehr gern, um dir zuzuhören, auch wenn ich alt bin.«
Roos lacht und legt die Hand auf seinen Arm.
»Ich muss gehen«, sagt sie. Sie drückt die Studienbücher an die Brust und geht mit kerzengeradem Rücken davon. Drik schaut ihr nach.
»Wir hatten zusammen Nachtdienst«, sagt Allard. »Letzte Woche. Zwei Nächte hintereinander, dann ein paar Tage frei. Viele Kollegen hassen das, aber mir gefällt es ganz gut. Es ist still im Krankenhaus, man geht von einer Abteilung zur nächsten, alle sind froh, wenn man kommt. Nach Morgenbesprechung und Übergabe darf man gehen – als lebte man gegen den Strom.
Wir fingen mit einem Kaiserschnitt an. Die Frau bekam Zwillinge. Ein Kind hatte sie schon normal geboren, das zweite wollte nicht raus. Dem Kind ging es nicht gut, es musste eingegriffen werden. Suzan hat den Zugang gelegt. Sobald die Anästhesie sitzt, geht alles rasend schnell. Die Patientin schrie, dass sie ihre Füße noch fühlen könne, sie sollten warten, es dürfe noch nicht geschnitten werden. Aber das ist so ein Hexenkessel, dass keiner daran dachte, die Frau zu beruhigen. Sie schrie immer noch, als wir das Baby über das Tuch hoben. Der Vater schwitzte wie verrückt. Angehörige, die mit in den OP gehen, müssen so einen idiotischen Anzug anziehen, einen viel zu großen knallgrünen Overall, man denkt unweigerlich an ein Monster aus der Sesamstraße, unmöglich sieht das aus. Er verschwand hinter dem Baby her in den Nebenraum für die Erstversorgung, wo schon der Kinderarzt bereitstand.
Ich habe in den offenen Bauch geschaut. Sie würden den Uterus ›mit Respekt vor der Anatomie‹ nähen, sagte die Chirurgin. Sie ließ das von ihrem Assistenten machen, aber der konnte sich kaum rühren, weil die Tante direkt mit der Nase drüberhing. Sie triefte nur so vor Missbilligung. Dabei fand ich, dass es ganz ordentlich aussah. Er hatte auch erst alles mit Tupfern gesäubert. Die Plazenta lag in einer Schale auf einem Tisch. Ich hatte der Mutter etwas zur Beruhigung gegeben. Sie fragte nach ihrem Kind, und ich schaute durch das Fenster in den Nebenraum. Sie waren zu viert oder fünft mit dem Baby beschäftigt, der Vater stand hilflos daneben. Suzan wollte, dass ich ihn holte, sie fand, dass er bei seiner Frau sein sollte. Als er in diesem Froschkostüm hereinkam, wusste ich gleich, dass es schlecht ausgegangen war. Das Kind war tot. Die Mutter wirkte abwesend, als hätte sie das gar nicht richtig mitbekommen. Unterdessen wurde letzte Hand an die Nähte gelegt. Für uns war die Sache erledigt, sie war stabil und hatte etwas gegen die Schmerzen bekommen. Aber was sollte das Paar in dieser irrealen Umgebung? Daran dachte ich. Wir fuhren die Mutter in den Aufwachraum. Der Vater schlurfte mit und versuchte die Hand seiner Frau zu halten.«
Drik fragt sich, ob er etwas dazu sagen soll, welche Erleichterung man verspüren kann, wenn man sich von unbehebbarem Elend wie diesem entfernt, doch die
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