Die Betäubung: Roman (German Edition)
seines therapeutischen Hirns, das noch funktioniert. Er lässt mich eine Strafe verhängen, statt sich selbst zu verurteilen und schuldig zu fühlen. Halt den Mund.
»Wir sind kurz eingeschlafen. Dann der Piepser. Notaufnahme, in fünf Minuten. Sie zog sich blitzschnell an. Ich dachte: Sie baut sich auf, bis sie wieder meine Supervisorin ist. Ich musste warten, denn der Neurologe und der Internist würden auch auf den Flur hinausstürmen. Erst wenn alle anderen weg waren, durfte ich das Zimmer verlassen. Sie gab mir ihren Schlüssel und ging. Ich blieb liegen, das Bett roch nach ihrem Parfüm. Was für eine Nacht.«
Mit Menschen, die ernstlich verliebt sind, kann man keine Therapie machen, denkt Drik. Das gleicht einer Psychose. Es gibt nur ein einziges Thema, und es ist unmöglich, davon Abstand zu nehmen. Ist die Zeit schon um? Ja, Gott sei Dank, ich kann abschließen.
»Du hast eine Menge erlebt«, presst er hervor. »Die Zeit reicht jetzt nicht mehr, das alles zu besprechen. Wir sehen uns nächste Woche.«
Blickt Allard enttäuscht? Er erhebt sich, gibt Drik schlaff die Hand und geht mit gesenktem Kopf hinaus.
Unter diesen Umständen kann Drik die Therapie nicht beenden. Das ist ein einziges großes Agieren, und er muss dafür sorgen, dass Allard wieder mit beiden Beinen auf die Erde kommt. Möglichst ohne allzu großen Schaden. Drik greift zur Akte. Doch er ist nicht imstande aufzuschreiben, was Allard erzählt hat. Wenn es zu Papier gebracht ist, wird es wirklich wahr.
Wenn ich alle Daten verändere und verdrehe, überlegt Drik, kann ich den Fall dann mit Peter besprechen? Vielleicht. Aber ich hätte nichts davon, denn es geht um diesen spezifischen Fall. Es geht vor allem um mich. Ein Patient drängt sich tief in mein Leben hinein, und ich weiß mir nicht zu helfen.
Mein Lehranalytiker ist tot, meine alten Supervisoren leiden unter Gedächtnisschwund. Den unseligen Fall mit einem Mitglied der Vereinigung zu besprechen, kann ich Peter nicht antun, falls ich denn überhaupt jemanden finden sollte, dem ich vertrauen kann. Einbahnstraße. Nachher zum Essen zu Suzan. Ich habe es versprochen.
Die Kraft der Abwehr befähigt ihn, so zu tun, als wenn nichts wäre. Mit Peter bespricht er einen Artikel, den sie zusammen schreiben – über den Nutzen der Lehrtherapie für Psychiater. Dieser einen elenden Lehrtherapie, die ihn ganz in Beschlag nimmt, widmet er keinen einzigen Gedanken. Suzan wirkt beschwingt und erzählt von ihren Forschungsplänen. Sie habe ein Konzept erarbeitet und mit einem Forschungspsychologen Fragen entworfen.
»Eine Pilotstudie«, sagt sie. Drik sieht sie am Herd stehen, mit dem Kochlöffel gestikulierend.
Es gehe um awareness , wie übersetze man das? Bewusstsein? Wahrnehmung? Sie hoffe, bei keinem Patienten darauf zu stoßen.
Das kann ich mir vorstellen, denkt Drik, es ist ihre Rettung, dass sie sich über nichts bewusst ist. Im Geiste zieht er sie aus, weg mit der großen Küchenschürze, dem kurzen Rock, der zarten Unterwäsche. So, nackt, hat sie bei Allard gelegen. Unwillkürlich schüttelt er den Kopf. Unmöglich.
Was, wenn es gar nicht stimmt, wenn Allard sich das nur ausgedacht hat? Könnte sein. Aber was, wennes tatsächlich passiert ist?
Drik spürt, wie ihm das Blut aus dem Gesicht weicht. Weiß Allard, dass Suzan seine Schwester ist, hat er sich deshalb in sie verliebt? Schaut er zufrieden zu, wie er ihn damit immer stärker in die Bredouille bringt? Wartet er, bis er daran zerbricht? Allard, der mit zynischem Grinsen im Gesicht austestet, wie weit die Solidarität mit dem Patienten geht, wie weit Drik sich sein Privatleben vergiften lässt, nur um für seinen Patienten da sein zu können.
Hör auf. Natürlich weiß der Junge von nichts. Du musst sachlich sein, nachdenken. Disziplin. Es kann sein, dass er lügt, diese Möglichkeit muss offenbleiben.
Er sieht, wie Peter und Suzan sich anlachen. Es ist nichts, denkt er, nichts, was dich beunruhigen müsste. Schau doch hin.
18
Halb fünf. Harinxma heftet die beiden Hälften des zerteilten Brustbeins mit Eisendraht und Kneifzange zusammen. Unter seinem Mundschutz pfeift er ein Liedchen dazu. Die Kardiotechniker räumen auf, schieben die Herz-Lungen-Maschine zur Seite und rollen die Schläuche auf.
Den ganzen Tag über ist mit äußerster Konzentration gearbeitet worden. Auf der Südseite des Patienten stand der chirurgische Assistenzarzt und präparierte ein dreißig Zentimeter langes Aderstück aus dem Unterbein,
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