Die Betäubung: Roman (German Edition)
während der Chirurg nördlich vom Zwerchfell den Brustkorb aufspreizte. Das Herz, zur Hälfte von einer gelblichen Fettschicht bedeckt, wurde stillgelegt, und der Patient kühlte ab. Er lag weitgehend entblößt auf dem Tisch, nichts an ihm bewegte sich mehr, als hätte der Tod die Regie übernommen. Aber das schien nur so: Dank der Herz-Lungen-Maschine wurde die Sauerstoffversorgung der Organe über verschiedenfarbige Schläuche sichergestellt – rote für die Zufuhr, blaue für den Abtransport des sauerstoffarmen Blutes. »Mehr Blau!«, schrie Harinxma, »MEHR BLAU!«, wiederholte der Kardiotechniker wie in einem skurrilen Kanon. Suzan jonglierte mit Heparin gegen die Blutgerinnung und hängte einen Infusionsbeutel nach dem anderen an den Ständer, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Die Leblosigkeit war nur Schein, darunter lief ein vollständiger, wenn auch künstlich in Gang gehaltener Stoffwechsel ab.
Harinxma hatte laut schimpfend die morschen Herzklappen abgetrennt und sich an die endlose Serie von Nähten für die Ersatzklappen gemacht. Eine mühsame Kleinarbeit, bei der er sich von seiner schlechtesten Seite zeigte; zum Glück verstand die indische OP-Schwester nicht, was er sagte, und reichte ihm weiterhin freundlich Scheren und Zangen. Sie hatte eine magnetische Duschmatte auf den Bauch des Patienten gelegt, auf der die Instrumente haften blieben. Suzan sah, wie die Schwester Harinxmas Händen aufmerksam mit den Augen folgte und den Rhythmus seiner Handlungen zu antizipieren versuchte. Auf jedes Stocken folgte ein Fluch. Suzan hatte sich gefragt, ob sie etwas sagen sollte. Es hatte schon gleich morgens angefangen – die neuen Leuchten taugten nichts, der Wandcomputer sei kaputt –, und das cholerische Geschimpfe ging den ganzen Tag so weiter. Das ist seine Art zu arbeiten, dachte sie, ich störe ihn in seiner Konzentration, wenn ich ihn darauf anspreche. Er benimmt sich unmöglich, aber seine Kollegen rufen immer ihn, wenn sie selbst nicht mehr weiterwissen. Und er kommt dann auch. Wenn es um seine Patienten geht, ist ihm nichts zu viel.
Stunden später schwebte die künstliche Herzklappe an einem Bündel schwarzer Fäden herab und landete im Herzen des kalten Patienten. Faden für Faden verknotete der Chirurg die Nähte. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch den Operationssaal. Harinxma machte sich daran, mit dem herauspräparierten Gefäß, das wie ein bleicher Regenwurm in einer Schale wartete, den Bypass zu legen.
»Sinnlos, diese ganze Übung«, zischte er. »Die Gefäße sind so miserabel, dass ohnehin bald alles vorbei ist. Schade um die teure Klappe.«
Als er fertig war, warteten sie alle gespannt, was passierte: Würde das Herz von selbst wieder zu schlagen beginnen? Harinxma hielt die Elektroden bereit. Atemlos schauten sie zu, wie der Herzmuskel vibrierte, sich zusammenzog und sich dem vertrauten Rhythmus ergab. Harinxma entdeckte noch eine undichte Stelle und zwängte eine weitere Naht unter das Herz.
Man hielt ihm einen Becher Kaffee hin. Er sog am Trinkhalm und ließ sich auf einen Hocker sinken. Suzan pumpte mittels Druckinfusion angewärmte Infusionslösung in den Patienten und schob unter das Tuch, das jetzt über den Patienten gebreitet worden war, einen Staubsaugerschlauch, durch den heiße Luft geblasen wurde. Die Temperatur musste wieder nach oben, das würde dauern. Auf einer Tafel an der Wand war festgehalten worden, welche Tupfer in welcher Zahl im Patienten verschwunden waren. Die Springerin faltete die blutigen Lumpen langsam und ordentlich zusammen und türmte sie mit den Etiketten daneben zu kleinen Stapeln. Sie zählte, strich durch, zählte noch einmal.
Es war halb fünf.
Während der eiligen Mahlzeit, die Peter bereitet hat, denkt Suzan an den Mann, der den ganzen Tag wie tot auf dem Tisch gelegen hatte und gegen sechs, aufgewärmt und wieder bei Bewusstsein, in seinem Bett im Aufwachraum mit seiner Frau plauderte. Sie stellt sich vor, wie unter der vernähten Haut unterdessen das Blut seinen Weg durch den neuen Bypass sucht und kraftvoll durch die künstliche neue Klappe strömt. Wie schnell vergisst man so einen Ausflug ins Totenreich? Sofort, denkt sie, sowie man wieder lebt.
Sie fahren mit dem Rad zu dem Konzertsaal, in dem Roos eine Aufführung mit ihrem Orchester hat. Am Eingang treffen sie Drik, der Leida mit dem Auto zu Hause abgeholt und ins Schlepptau genommen hat. Die alte Frau schreitet am Arm ihres Neffen erhobenen Hauptes hinein. Sie
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