Die Betäubung: Roman (German Edition)
Schwägerin, eine über alles erhabene Frau, die alles verstand und alles konnte. Die sie aber im Stich ließ und nur noch zur Bewunderung gut ist.
»Du könntest dir Hilfe suchen. Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wenn du mich bittest, jemanden für dich zu kontaktieren, tue ich es sofort.«
»Ich kann es nicht sagen. Wenn ich es ausspreche, ist es nie so, wie es sich anfühlt. Ich habe solche Sehnsucht. Danach, dass alles gut ist, dass ich zu Hause angekommen bin. Aber es gibt kein Zuhause. Und ich weiß nicht, was gut ist. Ich weiß nur, dass ich mich so schrecklich sehne. Es zerreißt mich. Ich falle auseinander vor Sehnsucht. Irgendwer muss mich festhalten.«
Sie fühlt Driks Hand auf ihrem Bein. Schweigend fahren sie durch den Abend, Bruder und Schwester.
19
Der Zersetzungsprozess in der Behandlung von Allard schlägt sich auch auf die anderen Therapien Driks nieder. Er hat sein Selbstvertrauen verloren, kann sich schlecht konzentrieren und vergisst Wesentliches. Er erschrickt, als ein mündiger Patient ihn fragt, ob er nicht zu früh nach dem Tod seiner Frau wieder zu arbeiten begonnen habe. Eine sympathische Studentin, die ihn wegen einer Angststörung konsultiert hat, meint, er sei urlaubsreif: »Sie wirken so abwesend, das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, sind Sie übermüdet?«
An jedem Arbeitstag gibt es verlorene Stunden. Die Patienten erzählen von ihrer Woche, was sie gemacht und mit wem sie gesprochen haben. Drik hört es sich an und ist unfähig, eine Verbindung zu den darunter schwelenden Konflikten oder Problemen herzustellen. Er wartet nur darauf, dass die Stunde vorüber ist und der Patient, leicht enttäuscht, wieder geht. Erste Sitzungen werden ausgelassen. Es geht schleichend, fast unmerklich. Bei seinen Patienten handelt es sich überwiegend um neurotische, gehemmte Menschen, die nicht so schnell Krach schlagen oder rebellieren. Sie schweigen. Sie bleiben weg.
Am Sonntag geht er am späten Nachmittag mit Blumen auf den Friedhof. Inzwischen liegt ein Stein auf Hannas Grab, der ihren Namen und Geburts- und Sterbedatum trägt. Suzan hat für die passende Bepflanzung gesorgt, und an den Blumensträußen, die nicht von ihm selbst sind, kann er ablesen, dass Freunde und Studenten Hanna noch nicht vergessen haben. Ein gut gepflegtes Grab eines geliebten Menschen, der zu früh gehen musste. Bedauernswert, schrecklich, tragisch.
Und was ist mit mir, denkt er, wer kümmert sich um mich? Selbstmitleid – er lässt es zu, setzt sich auf einen umgekehrten Eimer, stützt sich mit den Armen auf den Oberschenkeln ab und bedauert sich. Er ist allein, festgefahren, von seinen besten Freunden abgeschnitten. Seine Frau liegt stumm unter der Erde, unverletzlich, vollkommen. Sie ist aus allem raus.
Das ärgert ihn. Als er merkt, dass er laut vor sich hin flucht, ruft er sich zur Ordnung. Denk nach, streng mal eben deinen Kopf an und entwirf einen Plan. Er stellt den Eimer weg und setzt sich in Bewegung.
Ich fühle mich als Opfer eines schwierigen Patienten, aber ich bin selbst nicht unschuldig daran. Ich will nicht hören, was er mir über Suzan erzählt, lasse ihn aber trotzdem jeden Montag kommen. Und erzählen. Ich kann damit aufhören. Wenn er morgen kommt, sage ich, noch bevor er den Mund aufmachen kann: »Das ist unsere letzte Sitzung. Ich sehe für dich kein Heil in dieser Therapieform, sie bringt dir nichts, und deshalb ist es unverantwortlich, damit fortzufahren.« Was tun, wenn er protestiert? Hart bleiben. Einseitig den Vertrag aufkündigen. Eine Überweisung anbieten, ihm zu bedenken geben, ob nicht eine Gruppentherapie etwas für ihn wäre. Anderer Ansatz, andere Technik. Ja, das sollte er versuchen. Vielleicht sind die Gruppenmitglieder Manns genug zu rufen: »Du hast sie wohl nicht alle, wie kannst du bloß ein Verhältnis mit deiner Supervisorin anfangen!«
Ich muss die Sache in der Hand behalten und darf ihn auf keinen Fall ans Institut überweisen, wo er all die heiklen Informationen auf den Tisch legen wird. Ich rufe einfach diesen alten Kollegen an, der noch mit fünfundsiebzig Gruppen bei sich zu Hause empfängt, in einer ausgebauten Garage voll verschlissener Sitzmöbel.
Nun, da er einen Plan hat, marschiert er energisch zum Friedhofstor hinaus. Wie oft hat er Patienten nicht schon unterbreitet, dass es sinnvoll ist, schwierige Gespräche im Voraus im Geiste durchzuspielen. Ein sehr guter Rat, findet er selbst.
Er fühlt sich immer noch tatkräftig, als Allard am Montag um
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