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Die Betäubung: Roman (German Edition)

Die Betäubung: Roman (German Edition)

Titel: Die Betäubung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Stunden nimmt Drik die Ausfahrt in den Nadelwald hinein.
    »Ich habe so eine Ahnung, dass es zu Ende geht«, sagt er. »Wir sollten mit dem Arzt dort, Gaarland, sprechen. Uns erkundigen, was er in Sachen Palliation macht. Vereinbarungen hinsichtlich lebensverlängernder Maßnahmen treffen.«
    »Er hatte eine eiserne Kondition. Aber seit dieser Grippe ist es mit ihm bergab gegangen. Irgendwann wird das eine oder andere Organ versagen.«
    »Herz? Nieren? Ich habe keine hohe Meinung von unserem Kollegen. Pflegeheimärzte verachten sich selbst und denken, dass wir es auch tun. Und infolgedessen tun wir es tatsächlich. Dabei sollten wir ihnen dankbar sein, denn sie leisten die Betreuung, zu der wir keine Lust haben. Dieser Gaarland ist ein pedantisches Arschloch, unheimlich von oben herab, nie zu sprechen. Was er kann, weiß ich nicht. Du?«
    »Mich kann er auf den Tod nicht leiden«, sagt Suzan. »Ich bin ihm wohl zu vorlaut. Na ja, wir werden sehen.«
    In dem kleinen Krankensaal sind drei der sechs Betten belegt. Zwei sehr alte Frauen mit eingefallenen Mümmelmündchen liegen totenstill unter pfirsichfarbenen Decken an ihren Infusionen. Ihnen gegenüber, am Fenster, liegt Hendrik. Man hat ihm die Arme ans Bett gefesselt. Er hebt in einem fort den Kopf vom Kissen und sieht sich mit ängstlichen Augen um. Der Anblick seiner beiden Kinder scheint ihn zu beruhigen: Der Kopf sinkt aufs Kissen, die Sehnen in seinem Hals entspannen sich.
    »Hilf mir mal, die Dinger loszumachen, ich kann mich nicht mal am Kopf kratzen«, sagt Hendrik, an Suzan gewandt, die Drik fragend anschaut. Als Drik nickt, löst sie die Fesseln. Hendrik massiert seine Handgelenke.
    »Es muss doch Personal hier sein«, sagt Drik, »ich mach mich mal auf die Suche.«
    »Suusje«, flüstert Hendrik, »ich bin so müde.«
    Aus dem Büro ist Driks aufgebrachte Stimme zu hören. Kurz darauf kommt er mit dröhnenden Schritten in den Saal zurück.
    »Der Arzt weigert sich zu kommen. Er hat Dienstschluss.«
    Drik schnaubt und stampft mit dem Fuß auf. Hendrik schießt im Bett hoch und fuchtelt mit den befreiten Armen.
    »Betrug!«, ruft er. »Ein Haufen Betrüger hier!« Er zupft unruhig an seiner Decke. Dann sieht er Drik an.
    »Es war doch lebenslänglich, nicht? Aber sie haben das wohl umgewandelt. Nehmen Sie jetzt die Hinrichtung vor?«
    »Schön wieder hinlegen, Herr de Jong, Sie müssen doch wieder zu Kräften kommen.« Die eingetretene Schwester schüttelt Suzan und Drik die Hand.
    »Er ist so verwirrt. Er weiß gar nicht, wo er ist. Ich glaube, er sollte lieber ins Krankenhaus, aber Doktor Gaarland möchte noch abwarten.« Sie streichelt Hendriks Hände.
    Suzan schlägt die Decke zurück und tastet seinen Bauch ab.
    »Harnverhaltung«, konstatiert sie. »Er deliriert. Übervolle Blase. Haben Sie ein Katheterset zur Hand?«
    Die Schwester ist schon davongestürzt.
    »Dürfen wir das so ohne weiteres?«, fragt Drik. »Ohne uns mit diesem Knilch abzusprechen?«
    »Notfall. Wir müssen .«
    Resolut öffnet Suzan das von der Schwester gebrachte Päckchen. Sie streift die sterilen Handschuhe über, zieht ihrem Vater die Pyjamahose herunter und schiebt ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, den Katheter in den Penis. Die Schwester hängt den Auffangbeutel ans Bett. Sie blicken zu dritt auf das Ingangkommen des Harnstroms.
    »Ich werde das mal eben in die Patientenakte schreiben«, sagt die Schwester mit feinem Lächeln. »Doktor Gaarland wird morgen ganz schön gucken.«
    »Geben Sie ihm am besten auch Haldol«, sagt Drik, »zweimal drei Milligramm pro Tag. Wenn wir schon dabei sind.«
    Der gewaltige Harnabgang scheint Hendrik erleichtert zu haben. Sie warten, bis er eingeschlafen ist, und sprechen dann noch kurz mit der Schwester in ihrem Büro.
    Es ist stockfinster, als sie sich auf die Rückfahrt machen. Ich muss etwas sagen, denkt Suzan, ich habe die ganze Zeit nur Angst.
    »Drik?«
    Drik brummt und starrt unverwandt geradeaus. Suzan muss weinen. Mit dem Ärmel ihres Snoopypullovers wischt sie sich den Rotz weg. Die Tränen strömen weiter.
    »Ich kann nichts sagen, Suzan. Aber über das, was du mir erzählst, darüber können wir reden.«
    Sie schluchzt so heftig, dass sie kein Wort herausbekommt. Erst als sie auf die Autobahn fahren, hat sie ihre Stimme wieder in der Gewalt.
    »Hanna«, sagt sie. »Die würde wissen, wie ich mich Roos gegenüber verhalten soll. Wie soll ich das allein können?«
    Während sie es sagt, wallt Wut in ihr auf. Eine Heilige, ihre

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