Die Betäubung: Roman (German Edition)
ließ sie mich lesen. Ich bin großartig: in kurzer Zeit viel gelernt, große Übersicht, ausgezeichneter Kontakt zu den Patienten und dem Personal, gute Zusammenarbeit. Steht alles drin. Jetzt kappt sie diese Zusammenarbeit. Warum?«
»Deine Probezeit ist also um?«
Allard nickt. Er hat sich geschnäuzt und presst die Taschentücher zu einem Knäuel zusammen, das er fest umklammert.
»Vielleicht hilft dir deine Supervisorin, der Realität ins Auge zu sehen und deine Weiterbildung in ruhigere Bahnen zu lenken. Bist du nicht, so weh es tut, doch auch ein bisschen erleichtert, dass diese explosive Situation vorüber ist?«
Das Schluchzen wird wieder heftiger.
»Ich fühle mich so abserviert, so im Stich gelassen.«
»Genauso wie damals, als dein Vater wegging?«
Allard schaut wütend auf und sackt dann wieder in seinem Sessel zusammen.
»Nein. Ja. Weiß ich nicht. Suchen Sie es sich aus.«
»Bist du ihr böse?«
Keine Reaktion. Was tun, denkt Drik. Ich kann ihn jetzt auf keinen Fall wegschicken, vielmehr müsste ich ihm eine zusätzliche Stunde anbieten, so durcheinander, wie er jetzt ist.
»Hör zu«, sagt er resolut, »was geschehen ist, rüttelt heftige Gefühle in dir auf. Verwirrende Gefühle, die zum Teil auch mit früheren Ereignissen zu tun haben dürften. Das lassen wir vorläufig beiseite, denn jetzt kommt es darauf an, dass du die nächsten Tage gut überstehst. Schlafen, essen, zur Arbeit gehen, etwas mit Freunden unternehmen. Bringst du das fertig? Kann ich dir dabei helfen?«
»Wie denn?«
»Ich könnte dir etwas verschreiben, damit du schlafen kannst. Und wir könnten zur Überbrückung einen zusätzlichen Termin vereinbaren, am Donnerstag zum Beispiel.«
»Ich will keine Hilfe. Ich will, dass sich alles wieder einrenkt. Sie haben mich immer abgelehnt, und jetzt, wo ich am Boden bin, tun Sie plötzlich nett und freundlich. Ich werde gedemütigt und betrogen, was gibt es da zu helfen?«
»Nett oder nicht nett, das steht jetzt nicht zur Debatte«, sagt Drik gemessen. »Wir vereinbaren, dass du am Donnerstag um sechs Uhr kommst und dass du in den Tagen bis dahin keine Dummheiten machst. Abgemacht?«
Allard steht auf. Sein Gesicht ist verquollen, und er zittert ein wenig.
»Morgen sehe ich sie wieder. Es ist ein Missverständnis, sie nimmt das zurück. Sie kann gar nicht ohne mich. Kronenburgs Ausbruch hat sie erschreckt. Es ist einfach nicht wahr, da bin ich mir ganz sicher.«
Die Sitzung hat Drik erschöpft. Er schreibt nur kurz ein paar Stichworte in die Akte und schließt dann sein Sprechzimmer ab. Whisky, denkt er, als er nach oben geht. Noch bevor er sich eingeschenkt hat, läutet das Telefon. Er hat sich vor ein Auto gestürzt, die Polizei hat diese Nummer in seinem Terminkalender gefunden – solche Gedanken schießen ihm schnell und flüchtig durch den Kopf.
»Onkel Drik? Hier Roos. Wollen wir zusammen essen, oder ist es schon zu spät?«
Drik setzt sich, er braucht einen Augenblick, um wieder im normalen Leben anzukommen. Essen mit Roos. Warum nicht? Weil sie Allard kennt, darum nicht. Aber ich kann doch nicht wegen eines schwierigen Patienten mein gesamtes soziales Leben einschränken! Sie ist schließlich meine Nichte, ich wär ja verrückt, wenn ich mir das nehmen ließe. Alles hat Grenzen. Ich mache, was ich will.
Sie verabreden, sich in einer halben Stunde bei einem Italiener zu treffen. Drik kippt den Whisky runter und kratzt sich am Kopf. Nicht gut gemacht, denkt er, nicht sorgfältig genug. Den Krisendienst hätte ich erwähnen sollen, obwohl, da arbeiten seine Exkollegen, da wird er nicht hingehen. Aber den Hausarzt hätte ich unbedingt anrufen müssen. Ich weiß nicht mal, ob er einen Hausarzt hat ! Er hat unsere Terminvereinbarung nicht wirklich bestätigt. Ich habe ihn einfach gehen lassen. Ich war froh, dass er ging. Ich habe mich dazu verleiten lassen, ihn zu vernachlässigen. Genau das bewirken vernachlässigte Menschen. Ich hätte das durchschauen müssen. Es gab einen einzigen Moment, da er mir aufrichtig leidtat, und zwar, als ich den Vergleich zu seinem Vater zog. Ein Kind, das es nicht wert ist, dass jemand seinetwegen bleibt, ja, ich habe seinen Schmerz gespürt. Er konnte nichts mit meiner Bemerkung anfangen. Er saß da wie ein böser, unverstandener Pubertierender, der müde abwinkt und »Ach, lass« ruft. Was, wenn er jetzt durchdreht? Sich erhängt? Suzans Haus in Brand steckt?
Warum nur mache ich mich derartig verrückt, gerade so, als hätte ich zum
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