Die Betäubung: Roman (German Edition)
sie weiß, dass das keine Frage ist und sie jetzt einen großen Fehler macht. Sie schmiegt sich in Allards Arme, legt den Kopf an seine Schulter und fühlt Tränen aufsteigen. Tu das nicht, denkt sie, reiß dich los, geh weiter, sag nichts. Allard küsst sie. Sie lässt es geschehen. Nur ganz kurz, denkt sie, nur noch einen Moment.
»Du hast das nicht ernst gemeint«, flüstert Allard, »du kannst nicht vor mir weglaufen. Du musstest das vielleicht sagen, aber nichts davon ist wahr. Ich halte dich fest, du kannst nicht einfach verschwinden.«
Die Tränen rollen ihr über die Wangen. Jetzt verläuft meine Wimperntusche, denkt sie, das sehen alle sofort. Ich bin nicht bei Trost, warum weine ich so, was treibe ich hier, womöglich stürmt gleich irgendwer vom Pflegepersonal durchs Treppenhaus, oder Ruud schaut hoch, wenn er seine Kippe wegschnippt, jemand, der so rege ist wie er, schaut nach oben, und dann werden wir entdeckt, ertappt. Es muss Schluss sein damit. Wenn nicht von ihm aus, dann von mir. Sie löst sich aus seiner Umarmung.
»Guten Morgen zusammen«, sagt der vorbeigehende Pfleger. Sie brummen eine Erwiderung. Allard lehnt an der Glaswand. Sie würde ihn am liebsten hindurchstoßen, so dass es ihn unten neben der Raucherecke zerschmettert und sie ein für alle Mal von ihrem Verlangen kuriert wäre. Geschockt wäre sie, verzweifelt, aber sie hätte ihre Ruhe wieder. Der Gewaltakt würde einer Entwicklung ein Ende setzen, die sie nicht zu stoppen vermag. So wie ein hundertfünfzig Kilo schwerer Patient seine Sucht mit einer Verstümmelung bekämpft und sich den Magen herausnehmen lässt. So schlimm kann es doch nicht sein, denkt sie, ich arbeite hier, und niemand hält mich für komplett verrückt. Ich muss einfach zurück in die Realität.
Sie wischt sich auf gut Glück die schwarzen Flecken von den Wangen. Allard hilft mit nassem Finger nach. Sie tritt einen Schritt zurück.
»Ich meine es sehr wohl ernst«, sagt sie. »Wir sind Kollegen. Mehr nicht.«
Sie sieht, dass er etwas sagen will. Aber dann versteinert sein Gesicht.
»Gut, in Ordnung, wir sind Kollegen. Vielen Dank noch für die Beurteilung. Vereycken war beeindruckt. Ich bin jetzt offiziell angenommen.«
Suzan nickt. »Das solltest du nicht aufs Spiel setzen. Dafür ist die Arbeit viel zu wichtig. Und deine Ausbildung.«
»Ja, das weiß ich jetzt zur Genüge, darüber brauchen wir nicht mehr zu reden. Du bist eine ideale Frau, die dumme Dinge sagt. Was tun wir, wenn wir Kollegen sind? Wie geht das?«
»Ich frage dich, ob du heute Abend zur Fallpräsentation gehst. Was du davon hältst, dass der Nascheimer verschwindet. Solche Sachen.«
»Um den Eimer geht es heute Abend? Ich kann nicht kommen, ich muss woanders hin.«
»Die Assistenten kommen immer. Die Nascheimerproblematik ist inzwischen dem demokratischen Prozess entzogen worden. Einfach weg, Ukas von Taselaar. Was machst du diese Woche?«
»Orientierung. Ich war auf der Intensivstation, nicht gerade aufmunternd. Und in der Schmerzambulanz. Auch das reinste Elend, sollte man meinen, aber ich find’s schön. Jemand hat irgendwo Schmerzen, du schaust, welcher Nerv die entsprechende Region innerviert, und dann rückst du dem zu Leibe. Mit Medikamenten, mit dem Skalpell, mit Wärme oder Kälte. Dieser Berend friert Nervenbahnen ein! Mit einer Schnelligkeit und Mühelosigkeit, dass es eine Freude ist. Du fehlst mir so, Suzan.«
»Sag das nicht, bitte. Ich gehe jetzt übrigens, ich muss heute noch was schaffen.«
»Ich fliege gleich«, sagt Allard. »Mit Luc Delvaux. Bin gerade auf dem Weg zum Hubschrauber. Bist du schon mal mitgeflogen?«
»Nein. Höhenangst. Hast du die nicht?«
»Siehst du, wir wissen noch gar nichts voneinander. Da kannst du nicht Schluss machen. Ich weiß nicht, ob ich Angst vor großen Höhen habe. Nie getestet. Kommst du kurz mit nach oben, nur zum Zuschauen?«
Ich kann nicht zu allem nein sagen, denkt sie, das ist doch eine ganz unschuldige Bitte. Ich begleite ihn kurz, und dann gehe ich wieder.
Gemeinsam gehen sie die Treppe hinauf. Als sich die Türen öffnen, wird spürbar, dass auf dem Dach ein kräftiger Wind bläst, ganz anders als unten am Boden. Der Rettungshubschrauber sieht aus der Nähe riesig aus und scheint sie zu beäugen wie ein gruseliges Insekt. Luc trägt Erste-Hilfe-Koffer und Pakete mit Infusionslösung herbei. Er hat seinen imposanten orangefarbenen Anzug an.
»Hallo, Suzan!«, schreit er gegen den Wind an. »Möchtest du
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