Die Betrogenen
wiedererkannt, und Karl hüteteseinen Wissensvorsprung wie ein Pirat seinen kleinen, schmutzig erworbenen Schatz.
Warum sie ihm damals nichts gesagt hatte, wußte er immer noch nicht. Hatte sie ihn schonen wollen oder war sie einfach gedankenlos? Kein einziges Signal hatte sie ihm gegeben – jedenfalls fand er keines, so oft er sich den Ablauf des Abends vors innere Auge rief. Oder war er blind und taub dafür gewesen, so etwas gab es ja?
Doch mittlerweile neigte er einer anderen Deutung zu. Der Abend hatte unter einem ihm verborgenen Stern gestanden. Nur weil sie wußte, daß sie abreisen würde, war er überhaupt möglich geworden. Es war ein Ausnahmeabend, eine Walpurgisnacht, und Karl konnte froh sein, daß die Einladung nach Washington gekommen war, ohne die sie ihn vielleicht noch zu Paolo, aber sicher nicht nach Hause begleitet hätte, wo sie am Morgen ihren auf dem Boden liegenden Slip mit den Zehen gepflückt hatte – oder hatte er das nur geträumt?
Wie jedes Mal, wenn er an sie dachte, wurde ihm schwer ums Herz. Es war heftige Verliebtheit, die erste seit seiner Scheidung; wahrscheinlich war das der Grund, daß er sie sich nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Bezaubernde Nora … Hätte er ihr schreiben sollen? Aber er hatte weder eine Adresse in Amerika, noch mochte er beim Vater nachfragen, und es war ohnehin müßig: Wenn sie sich nicht einmal von ihm verabschiedet hatte, würdees ihm wohl kaum gelingen, sie durch ein
billet doux
über den Atlantik zurückzulocken.
Immerhin möglich auch, daß er den Abend inzwischen verklärte. Das glich dem Umwenden eines einseitig beschriebenen Briefes; aus irgendeinem Grund wirkte die Handschrift von der Rückseite des durchscheinenden Blattes aus immer deutlich schöner als auf der Vorderseite, vielleicht weil sie reines funktionsloses Ornament geworden war. Mit der Erinnerung war es ähnlich, da war das beschriebene Blatt schon umgewendet und wirkte im Verso üppiger, als es beim Niederkrakeln gewesen sein mochte. Aber in diesem Fall war schon die Niederschrift schön, Verklärung hin oder her! Karl vermißte ihr helles Lachen, alles andere war Selbstbetrug.
Ihr Woytek aber war immer wieder für Überraschungen gut. Wie sich herausstellte, hatte er in Warschau Flugzeugbau studiert. Wäre ihm nicht das Glücksspiel dazwischengekommen, hätte er wohl ein Diplom; jedenfalls wäre er nicht Tagelöhner, denn das war es, was er der Sache nach betrieb. Einmal war er für zwei Wochen in weiblicher Begleitung nach Brasilien verschwunden und hatte nach seiner Rückkehr erklärt, er habe auswandern wollen, das habe sich dann zerschlagen. Ein andermal hatte sich Karl einen konzertanten
Parsifal
in der Philharmonie geleistet und seinen Augen kaum getraut, als er in der Pause Woytek traf, mit farbenfroher Krawatte zum Cordanzugund einem Sektkelch in der Hand. «Guten Abend, Herr Lorentz!» – Woytek strahlte, er sei eingeladen worden, die Dame komme gleich. Da hatte es aber auch schon gegongt, und Woytek war zurück zu seinem Platz im linken Rang gestrebt, während Karl im rechten saß, von wo aus er ihn nicht sehen konnte. Ein stiller Charmeur eben doch! Vielleicht würde er ihn ja später im Foyer treffen und die Bekanntschaft der Frau machen, die Woytek so großzügig freihielt. Es würde doch nicht Noras Kollegin aus der Galerie sein?
Wie immer bei
Parsifal
waren Karl bald die Augen zugefallen, auf das narkotische Gift dieser Musik war Verlaß. Da kam die Aufmunterung durch Cornelius gerade recht, der zwei Reihen vor ihm saß und ihn nach dem Schlußapplaus begrüßte. Seit er ihn aus dem Vorstand der Grabbe-Gesellschaft kannte, hatte Karl ihn nie anders als aufgeräumt erlebt. Und war es nicht erstaunlich, wie er sich mit seinen bald achtzig Jahren noch so gerade hielt, als hätte er einen Spazierstock verschluckt? Fast wunderte man sich, daß ihm nicht der gekrümmte Griff aus dem Mund ragte, dachte Karl, als sie sich im Rückstrom gemeinsam zur Garderobe treiben ließen. Cornelius hatte sich bei ihm eingehängt und erklärte, er habe Karls Studie mit Gewinn gelesen. Er liebe den Verrat, aber hasse den Verräter, hatte Cäsar ja gesagt – Karl sehe es, wie ihm schien, genau umgekehrt?
Brutus & Co
– doch, eine feineSache, gerade das Kapitel über Mime. Und gleich sein erstes Buch im Hause Gabriels zu veröffentlichen, war doch ein schöner Erfolg!
Karl, der immer noch nach Woytek und dessen Begleitung Ausschau gehalten hatte, war überrascht und beglückt.
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