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Die Betrogenen

Die Betrogenen

Titel: Die Betrogenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Maar
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geschwiegen.
    Die überraschendste Reaktion war aber wieder von Woytek gekommen. Schon daß er das Buch überhaupt gelesen hatte, wäre erstaunlich gewesen, hätte Karl ihn nicht inzwischen als stilles Wasser gekannt. Eines Abends hatte er in seinem gelben T-Shirt bei Karl geklingelt und die Stundenabrechnung vorgelegt, die er gern großzügig gestaltete und darum möglichst lang auflaufen ließ. Wie sollte Karl nach acht Wochen noch wissen, von wann bis wann Woytek damals die Heizung entlüftet oder den Balkon gestrichen hatte? Jedenfalls war er mit seinem Zettelchen gekommen – dieser Moment mußte immer der heikelstefür ihn sein, denn wer garantierte ihm, daß Karl nicht einen Kalender führte? – und hatte die Stunden vorgezählt. Und dann gab er, an der Limonade nippend, die Karl ihm angeboten hatte, seinen Kommentar.
    «Also, Herr Lorentz.» Das Kapitel über Judas, klar! Aber warum nicht auch eins über Abraham? Würde Karl sich nicht als Verräter an seinem Sohn fühlen, wenn er ihn unter Vorwand auf den Berg schleppte, um ihn zu schlachten? «Abraham konnte ja nicht wissen, daß für Gott das Ganze nur ein Test war.»
    Er hatte die Augen aufgerissen und war heftig ins Stottern gekommen. Woytek sah seinen kleinen Sohn nur jedes zweite Wochenende und war in diesem Punkt empfindlich, wie Karl aus gelegentlichen Bemerkungen schloß. Karl fing an, ihn zu mögen; womöglich waren seine Rechnungen auch nicht frisiert. Sollte er ihn doch einmal auf Nora ansprechen?
    Es war schon Herbst geworden, und auf den Straßen rutschte man durch Blätterkot, als endlich ein langer Brief Bittners eintraf. Nach Andeutungen über Stimmungstrübungen rühmte er Karls Studie, vor allem das Jago-Kapitel habe es ihm angetan. Das hätte er selbst gern geschrieben, und das gehe einem Autor ja gar nicht leicht über die Lippen. Vorzüglich auch die Fußnote über die schnatternden Gänse, die Sankt Martin verraten hatten, wofür man sich noch jedes Jahr an ihnen schadlos hielt, als hätten ihnenihre wachsamen Schwestern auf dem Capitol nicht genügend Kredit verschafft.
    Was dann folgte, war ungewöhnlich genug. Offenbar waren es die Gänse, die Bittners Gedanken in eine bestimmte Bahn gelenkt hatten.
    Da hatte er nun die
Masken des Todes
und manches mehr verfaßt, das Karl und andere ihm so liebenswürdig rühmten, aber was sie nicht ahnten, war sein Gefühl des Versagens. Es ließ sich in einem Satz zusammenfassen. Er hatte es nicht geschafft, den Vogelflug zu beschreiben. Er meinte den Flug eines Vogelschwarms, wie er etwa über einen Acker strich oder von einem Kirchendach aufstob oder über dem Marktplatz die Richtung wechselte, diese flüchtigste und schönste Erscheinung der Natur; wie da jeder Einzelvogel im Schwarm zum Orchester gehörte, bei dem es keinen Dirigenten gab; wie das pointillistisch pulste und wellenartig wogte und sich plötzlich hierhin und dorthin verschob, wie sich das Licht auf den Flügelpaaren immer neu brach und die Luft in dunkles brummendes Vibrieren geriet, und nach ein paar Sekunden war schon wieder alles vorbei – in all den Jahrzehnten sei ihm kein Bild dafür eingefallen; und darum betrachte er sich als gescheitert.
    Herzlich verbunden, sein Arthur Bittner.
    Was sollte man darauf nun antworten?
    In einem Postscriptum in seiner ausladenden Schrift und in schöner nachtblauer Tinte hatte Bittner noch angefügt,seine Tochter gefalle sich gut im Lande des Ungeists und werde dort wohl bleiben, was ja vielleicht auch sein Richtiges habe; ihn werde es dort jedenfalls nicht hinziehen. – Ob Karl gut vorankomme mit seinen literarischen Plänen?
    Karl wußte zwar, daß man das eigentlich Wichtige immer im P. S. verpackte, aber in diesem Fall hielt er ihn für unschuldig; woher sollte Bittner wissen, daß Karl von seiner Tochter noch immer fast jede Woche träumte?
    Wobei sein Nachtschlaf in letzter Zeit gestört war. In der Anderthalbzimmerwohnung, die direkt über seinem Schlafzimmer lag, hatten die Mieter gewechselt. Ein Pärchen war eingezogen, das in frappierender Zuverlässigkeit jeden Abend ab elf zu Aktivitäten überging, von denen Karl bei den hellhörigen Verhältnissen mehr mitbekam, als er sich gewünscht hätte. Mit welcher Zähigkeit! Die dünnen Altbaudecken mit ihrer Strohdämmung waren kaum weniger durchlässig als der Vorhang, hinter dem er damals ähnlich beschallt worden war.
    Und auch aus der Wohnung unter ihm drang Lärm. Karl empfand das Greinen des Säuglings, von dem er jeden

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