Die Betrogenen
Morgen geweckt wurde, als logische Verlängerung der Zeugegeräusche von oben; es führte die Dinge in ihrer natürlichen Ordnung und Abfolge vor. In Karls Ohren klang dem Wimmern etwas leicht Hämisches bei. Er selbst würde davon ja immer verschont bleiben. Es war Carmen, die ihn zu der Untersuchung gedrängt hatte, beider es dann herausgekommen war … Wahrscheinlich Mumps in der Kindheit. Danach hatte es nicht mehr lange bis zur Trennung gedauert; Paris hatte da nicht geholfen. Inzwischen war sie schwanger, wie Karl erfahren hatte; mit seinem Nachfolger hatte sie nicht lange gefackelt.
Der neue Mieter von oberhalb, noch keine vierzig, hatte eine starke Neigung zur Glatze, wie Karl feststellte, als er mit ihm einmal die Fahrstuhlkabine teilte. Auf die allabendliche Ruhestörung ansprechen konnte er ihn schlecht. Wie die volkstümlichen Zuschreibungen doch immer ihren Sitz im Leben hatten! Karl dachte an Noras Oberlippenflaum; in Washington würde sie ihn epilieren lassen müssen, hatte es wahrscheinlich längst getan.
Ihr Vater hatte sein Buch dann ja doch noch gemocht. Aber wenn er bei Bittner auch glimpflich oder sogar glänzend davongekommen war, so hatte Karl doch inzwischen eine andere Sorge. Es konnte sein, daß sich direkt neben ihm ein Gewitter zusammenzog. Manteuffel hatte sich bislang nicht zu
Brutus & Co
geäußert, was nichts Gutes verhieß. Mit jeder freundlichen Besprechung mehr, die Manteuffel nicht alle entgehen konnten, wuchs die Wahrscheinlichkeit, daß Karl reif geworden war – reif für die Postkarte oder eine neuartige Form der Exekution.
Manteuffel war eben eine Prinzessin Turandot – nicht zufällig eine seiner Lieblingsopern. Die Reihen seiner Verehrer hatte er jedenfalls vollständig gelichtet, das mußte manihm lassen. Das sparte Porto, wenn er nicht mehr jede Woche Postkarten mit Rügen und Kommandos verschicken mußte, in überaus zierlicher Handschrift, die Graphologen entzückt hätte – Karl hatte eine ganze Sammlung davon.
Er überlegte, ob es einen Dichter gab, der einen Preis bekommen hatte, ohne daß kurz darauf die Manteuffel-Karte bei ihm in den Postschlitz gerutscht wäre, die ihm die Freundschaft aufkündigte. Es fiel ihm keiner ein.
Er mußte lächeln bei der Erinnerung. Es war ein Fest, dabei zu sein, wenn Manteuffel zwei Minuten vor Ladenschluß eine Konditorei betrat, um eine Tasse Kaffee zu verlangen. Entweder Koffein oder die Lizenz zu granteln – beides war recht, beides war hochwillkommen, der Anlaß zur Beschwerde wahrscheinlich noch ein Spürchen mehr. «Ja, was ist denn das», wurde dann gebrummt, «kann man hier nicht mal mehr eine Tasse Kaffee trinken! Aber Sie haben doch noch gar nicht geschlossen!»
Und was konnte Bittner dafür, wenn Manteuffels früher Ruhm seit einiger Zeit wieder abgeebbt war, den Rand eines schmalen Bassins ohnehin nie überschwappt hatte? Aber Bittner war ihm nun einmal ein Stachel im Fleisch; es dauerte keine fünf Minuten nach der Begrüßung, bis seine jüngsten publizistischen Possen und Aufschneidereien bedacht wurden, Karl konnte die Uhr danach stellen. Wenn das nicht alte Liebe verriet!
Die beiden waren ja früher befreundet gewesen und hatten,in Bittners Worten, wie Leim und Lack aneinandergehangen. Bis Manteuffel dann jenen Artikel veröffentlicht hatte; nicht ganz aus heiterem Himmel, ein paar Wölkchen waren über den schon gegangen, aber mit der Wirkung eines Donnerschlags. Doch so war es mit Manteuffel – wenn ihn der Haber stach, half gar nichts, dann hieb er darauf los und schonte selbst Freunde nicht. In Wahrheit war es freilich anders, wie Karl ahnte: es mußte lange in Manteuffel gegärt und er mußte viele Tropfen der Kränkung geschluckt haben, bis es aus ihm herausbrach, nur daß es eben so vieler Tröpfchen gar nicht bedurfte, denn sie wirkten homöopathisch und schon eine kaum nachweisbare Dosis, ein sublimes Nichts, hatte durchschlagenden Effekt. Wer glaubte, Manteuffel dosiere deshalb in ähnlich hohen Potenzen, wenn er es dem Kränker heimzahlte, der sah sich freilich getäuscht. Bei andern galt die Schulmedizin, und früher wurde auch ohne Narkose operiert, die sollten sich nicht so mopsen.
Zum Eklat mit Bittner genügte dann ein falsches Wort. Ausgerechnet Musik hatte für das Zerwürfnis gesorgt. Bittner hatte sich abschätzig über Jacques Offenbach geäußert – und Oh! Bittner konnte abschätzig sein, da ging ein schneidender Kältehauch von ihm aus, gegen den Polarluft ein milder Zephir war.
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