Die Bettelprophetin
Tag erfuhr Theres Stück für Stück, wie ihre Freundin zu ihrem kleinen Wohlstand gelangt war. Anfangs vermochte sie kaum zu begreifen, was Sophie da bei süßem Milchbrei scheinbar gelassen und in gänzlich gleichmütigen Worten von sich gab.
Zunächst, nach ihrer Flucht aus Tettnang, sei sie eine Zeitlang von Dorf zu Dorf gewandert, im Allgäu und am Bodensee, ohne recht zu wissen, wohin, habe mal hier, mal da gearbeitet.
«Auch als Stallmagd.» Sophie grinste breit. «Ich weiß also selber, wie es ist, nach Gülle zu stinken.»
Dann wurde sie ernst.
«Ich wär so gern zu dir, aber ich hatte mich irgendwie geschämt. Weil ich dir doch immer so großspurig geschrieben hab, wie gut ich’s getroffen hatte mit meiner Stellung als Stubenmädchen bei feinen Leuten.»
Doch schließlich sei die Einsamkeit immer noch schlimmer geworden, und nach etwa zwei Jahren habe sie beschlossen, Theres in Biberach aufzusuchen.
«Ob du’s glaubst oder nicht: Du bist immer meine einzige Freundin gewesen, und ich hatte plötzlich solche Sehnsucht nach dir. Ich hab mir dann den Weg erklären lassen zu deinem Pfarrer Konzet, aber das war ja umsonst, du warst längst weg von dort. Der meinte, du hättest irgendwas von Ravensburg gesagt, und der Gast, der gerade bei ihm war, auch so ein Pfaffe, hat das bestätigt: Er hätte dich erst kürzlich beim Ravensburger Liederfest getroffen, ziemlich traurig hättest du ausgesehen, und er …»
«Pfarrer Seibold?», unterbrach Theres sie aufgeregt. «Hieß er Patriz Seibold?»
Sophie zuckte die Schultern. «Weiß ich nicht mehr. So einer mit ganz hellen Augen und dunklem Haar. Er war sehr nett, hatte so was Sanftes. Jedenfalls wollt ich danach zu dir nach Ravensburg, ehrlich, aber dann kam was Dummes dazwischen.»
Sie zögerte. Dabei musterte sie Theres eindringlich, bis diese ungeduldig fragte: «Was ist? Jetzt sag schon.»
«Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Ich mein, ich frag mich, wie viel du weißt von der Welt. Du kommst mir irgendwie so – so ahnungslos vor.»
«Ahnungslos», wiederholte Theres mit belegter Stimme. Sie gab sich einen Ruck und stieß hervor: «Red nur weiter. Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen aus dem Vagantenkinderinstitut.»
«Also gut. Ich hatte mich verschuldet in der Stadt, bei einem Biberacher Wirt. Weil ich neue Kleider brauchte und so. Der hatte mir gesagt, wenn ich nicht binnen einer Woche das Geld beisammen hätt, würd er mir alle Büttel aus dem Oberland auf den Hals hetzen. Und hat mir gleich auch eine Marktverdingerin genannt, die könnt mir eine Arbeit vermitteln. Damals hatt ich mir noch nix Arges gedacht, weil so war’s auch in Tettnang gelaufen, wenn man eine Stellung gesucht hat. Und dieses Weib hatte mir auch tatsächlich was in einer Strickstube vermitteln können, am Stadtrand.»
Sie kratzte ihren Napf mit dem Milchbrei aus.
«Wir waren dort ein Dutzend junger Mädchen, fast alle vom Land und alle irgendwie arm und halverhungert, manche noch halbe Kinder. Gestrickt haben wir auch – tagsüber. Ich hab erst gar nicht begriffen, warum gegen Abend immer wieder mal welche verschwunden waren, wenn es geklopft hatte und ein Bote unserer Gevatterin ein Zettelchen überbracht hatte. Bis ich selber dran war. Ein netter Herr will dich zum Essen und Trinken einladen, hat sie gesagt. Ein sehr reicher Herr, zu dem ich ein bissel nett sein sollte. Damit könnt ich mir ein hübsches Sümmchen verdienen. Eine Kutsche hat mich dann ans andre Ende der Stadt gebracht, zu einem Haus, wo ein ekliger alter Sack in einem Mansardenzimmer auf mich gewartet hat. Ich musste süßen Wein trinken, und er hat erzählt, dass er ein Kaufmann auf Durchreise wär und sehr einsam. Dann hat er gefragt, ob er mal ein bissel hinlangen dürft, und hat schon gleich seine Hand in mein Leibchen gesteckt und zu grunzen angefangen. Als ich ihn weggestoßen hab, hat er gelacht: Einwenig Küssen und Spaßhaben hätt noch keiner Jungfer geschadet, und zwölf Kreuzer würd ich hernach auch kriegen. Ich bin dann davongerannt vor Schreck, aber am nächsten Tag bin ich doch wieder in die Strickstube.»
Theres hatte atemlos zugehört.
«Aber warum?»
«Himmel – ich hatte doch nix außer Schulden, und stehlen darf man nicht! Wovon sollt ich leben? Außerdem – diese alte Hexe hatte ja unsere Zeugnisse und Papiere einbehalten.»
«Hast du – hast du’s dann getan?»
«Gebrauchen lassen hab ich mich nie, aber halt anlangen und ein bissel karessieren lassen.
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