Die Bettelprophetin
finden; in den Städten vermochten immer mehr Menschen ihren Mietzins nicht mehr zu begleichen. Die Armut versteckte sich nicht mehr in den Lehmhütten auf dem Land oder in den zugigen Dachkammern der städtischen Hausarmen. Vielmehr war sie jedem und überall sichtbar geworden mit den Bettel- und Vagantenhorden, die durch die Straßen zogen und vor den Suppenküchen Schlange standen, mit all den Familien, die in ihrem jämmerlichen Haufen an Hausrat unter freiem Himmel oder in Bretterverschlägen hausten, bis die Polizei sie verjagte oder ins Arbeitshaus verfrachtete.
Bald begann die Verzweiflung der einfachen Leute, der Taglöhner, Kleinhandwerker und Fabrikarbeiter, in Wut umzuschlagen. Landjäger und Bürgerwehr hatten Mühe, die Tumulteallerorten einzudämmen, und schreckten dabei vor Gewalt nicht zurück. Doch die Saat aus Hunger, Empörung und bitterster Not war unwiederbringlich aufgegangen und nicht mehr auszurotten. Zugleich suchten viele Halt und Trost im Glauben. Theres wunderte sich bald nicht mehr über die vielen Wallfahrer unterwegs, über die vollen Kirchen, sofern der Pfarrer auch nur einigermaßen fähig war, seine Schäfchen zu begeistern. Vom Blutfreitag in Weingarten hatte sie gehört, dass nie zuvor solche Massen an Pilgern zusammengeströmt waren und dass man sogar wieder Reiter zulassen musste. Zugleich wurde der Ton rauer, nicht selten kam es zu wüsten Schlägereien zwischen den Anhängern der zahlreichen Glaubensrichtungen, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Theres ließ das alles unberührt: Für sie gab es den einen undurchschaubaren Gott, den sie wieder und wieder um Hilfe angefleht und der sie wieder und wieder zurückgewiesen hatte.
So baute sie nur auf ihre eigene Kraft, riss sich nach jeder Krankheit, nach jedem Schwächeanfall aufs Neue zusammen und kam mit aller Härte gegen sich selbst wieder auf die Beine. Gefühle wie Trauer oder Verzweiflung ließ sie nicht zu, bis auf die wenigen Male, die sie ihren Bruder Hannes in Münsingen besuchte. In seiner Obhut vermochte sie all die Tränen zu weinen, die sie sich sonst versagte.
Irgendwann, es war zur Zeit der ersten Hungerkrawalle im Land, hatte auch Theres zu betteln begonnen. Zumeist wurde sie davongejagt, und einmal landete sie sogar in Arrest, auf drei Tage bei Wasser und Brot, wobei sie für Letzteres trotz ihrer Scham fast dankbar war.
Nach dieser Arreststrafe war Theres vorsichtiger geworden. Schon lange besaß sie keinen Passier- und Reiseschein mehr, der ihr erlaubte, sich außerhalb ihrer Heimatgemeinde Ravensburg aufzuhalten, und so musste sie bei ihrem Marsch überdie Landstraßen ständig auf der Hut sein vor Landjägern oder patrouillierenden Flurschützen. Ihr wurde es zur Gewohnheit, den Menschen überhaupt aus dem Weg zu gehen, was wiederum die Gefahr barg, überfallen zu werden, als allein wandernde Frau. Doch außer ihrer Ehre hätte sie ohnehin nichts besessen, was man ihr hätte nehmen können.
Wenn sie bettelte, dann nur noch, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, oder an den Türen der Pfarrhäuser oder einsam gelegener Gehöfte. Hatte sie hierbei keinen Erfolg, klaubte sie heimlich in den Wäldern Reisig und Holzreste zusammen und tauschte sie ein gegen Brot, auch wenn die Strafe auf Waldfrevel noch schärfer ausfiel als auf Bettelei. In größeren Marktflecken oder in Städten verdingte sie sich, wenn es denn Gelegenheit gab, mit Holz- und Wasserschleppen oder tageweise im Waschhaus – mit schweren und schlechtgelöhnten Arbeiten also, bei denen sie hinterher den Rücken nicht mehr gerade bekam.
In jenen Nächten, wenn sie wieder einmal mit schmerzenden Gliedern in irgendeinem dreckigen Rattenverschlag nächtigte, hatte sie begonnen, mit Gott und dem Leben zu hadern. Sie war jetzt beinahe dreiundzwanzig Jahre alt, Mutter eines kleinen Mädchens, das man ihr weggenommen hatte, lebte dahin ohne Familie, ohne Freunde, ohne Zuhause. Hatte sie sich früher oft damit getröstet, dass Gott sie nur prüfe, dass er noch etwas Besonderes vorhabe mit ihr, denn schließlich war sie jung, gesund und keineswegs dumm, so glaubte sie nun nicht mehr an die Zukunft. Was sollte das Schicksal ihr schon bereithalten? Wie dieser seltsame Mensch aus dem Buch kam sie sich vor, dieser Baron von Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zog. Nur dass bei ihr nach jedem Freistrampeln bereits der nächste Sumpf auf sie wartete.
Immer häufiger verfiel sie nun in diesen teils beängstigenden, teils tröstlichen
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