Die Bettelprophetin
Gesicht! Die Wangen waren gerötet, die hellblauen Augen glänzten fiebrig.
«Bist du etwa krank?»
Das Mädchen nickte ernsthaft.
«Du zitterst ja. Wart, ich geb dir mein Betttuch.»
Theres zog das Tuch von der Pritsche. Als sie wieder aufblickte, war das Kind verschwunden.
«Johanne! Wo bist du, meine kleine Johanne?»
Mit bleischweren Gliedern stieg Theres aus dem Bett und trat in die Mitte des Schlafsaals, dessen übrige Betten leer waren. In diesem Augenblick schoben sich die ersten Strahlen der Morgensonne durch die vergitterten Fenster und wiesen ihr den Weg zur Tür. Dort stand das blonde Kind, das sich jetzt noch einmal zu ihr umblickte und winkte.
«Johanne, bleib hier! Wo willst du hin?»
«Ins Krankenspital, nach Ravensburg.» Das Mädchen tat einen Schritt auf die Tür zu. «Leb wohl, Mama», hörte sie noch,dann durchschritt die kleine Gestalt die Tür, ohne sie zu öffnen, und war verschwunden.
Als wenig später die Schläge von Topfdeckeln sie weckten, lag Theres zusammengekauert auf den Dielen, inmitten des Schlafsaals.
Für Theres war die Begegnung mit ihrer Tochter kein Traum gewesen. Johanne hatte sie gesucht und gefunden, und zweifellos war sie sehr krank. Sie musste so schnell als möglich zu ihr nach Ravensburg ins Spital, musste bei nächstbester Gelegenheit fliehen.
Drei Tage später war Sonntag, der Tag des Herrn. Zwischen Gottesdienst und Bibelstunde wurde ihnen an diesem Tag ein zweistündiger Freigang gewährt, der so frei war wie der Zug von Ochsengespannen unterm Joch: Im Gänsemarsch, die Arme über ihren Kitteln verschränkt, marschierten sie zum Tor hinaus, vorweg ein Sergeant, hintendran ein zweiter. Einmal rund um die weitläufige Anlage, die einst Grafen und Herzögen als Schloss gedient hatte, ging diese sogenannte Erholungspromenade, von dort hinunter zur Neckarhalde und quer durchs Städtchen zurück. Manchmal warfen Kinder mit Rossbollen nach ihnen.
An jenem trüben Sonntagnachmittag hatte früh die Dämmerung eingesetzt. Als sie den Uferweg am Neckar erreichten, der von Büschen gesäumt war, sah Theres die Gelegenheit gekommen. Sie hatte sich wie üblich als Letzte eingereiht, hinter ihr ging nur noch ihr Bewacher. Plötzlich war der hinter einen Busch getreten, um Wasser zu lassen. Lautlos wie eine Katze huschte auch sie mitten hinein in das dunkle Strauchwerk und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie der Sergeant wieder den Weg betrat und sich beeilte, aufzuholen. Ihm schien tatsächlich nicht aufzufallen,dass nun jemand anderes vor ihm ging – wie auch, wo doch die Frauen alle gleich aussahen in ihren grauen Kitteln und grauen Jacken.
Bald war der Zug aus ihrem Blickfeld verschwunden. Einige Minuten wartete sie noch, dann kletterte sie hinunter ans Flussufer, wo sie von etlichen Holzkähnen wusste, die dort vertäut lagen. Sie suchte sich ein Boot, das nicht mit Wasser vollgelaufen war, band es los, setzte sich hinein und begann mit bloßen Händen zu paddeln. Die Schneeschmelze in den Bergen hatte noch nicht eingesetzt, und so glitt das Boot ruhig auf der Strömung dahin.
Als die letzten Häuser Rottenburgs außer Sicht waren, legte sie am anderen Ufer an. Über dem hügeligen Waldgebiet zeichnete sich die steile Kante der Alb gegen das letzte Tageslicht ab. Weder Mond noch Sterne erschienen am Nachthimmel, um ihr den Weg zu weisen. Doch Theres fürchtete sich nicht mehr vor der Dunkelheit. Im Gegenteil: Sie fühlte sich umhüllt wie von einem Mantel, der ihr Schutz und Geborgenheit versprach. Dem Dunkel nämlich blieben die Menschen fern und damit auch ihr, im Dunkel fühlte sie sich ihren wenigen Freunden fast so nah wie im Traum, das Dunkel gab ihr mehr Trost und Wärme, als es jeder Sonnentag vermocht hätte.
Zwischen mächtigen, schwarzen Baumstämmen hindurch tastete sie sich vorwärts, den Blick angestrengt nach unten gerichtet, um nicht von dem schmalen Pfad abzukommen. Ein gutes Stück wollte sie noch marschieren, um sich dann im Unterholz eine geschützte Stelle zum Übernachten zu suchen.
Der Weg über die Alb war der mühsamste Teil ihrer Wanderung. In der kargen, trockenen Landschaft, die nur sehr spärlich besiedelt war, musste Theres oft den halben Tag lang marschieren, bis sie irgendwo ihren Durst stillen konnte. VomHunger ganz zu schweigen. In den Wäldern klaubte sie Beeren vom Boden und von den Sträuchern, sofern nicht schon Vögel und Wild alles geplündert hatten, aß in der
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