Die Bettelprophetin
Dämmerzustand, in dem die Außenweltihr zu einem faden, abgenutzten Bild wurde, das sie umgab, als habe es nichts mit ihr zu tun. Dann war ihr, als habe sich ihr Körper nach außen abgeschlossen. Regentropfen waren nicht mehr nass, Sonnenstrahlen wärmten nicht mehr. Dafür nahm die Innenwelt Gestalt an, indem selbst am helllichten Tag die Träume aus ihrem Schattenreich entwichen und sie umfingen mit Gesichtern und Menschen und Räumen aus alten Zeiten. Wenn sie unterwegs war, konnte es geschehen, dass sie mit Urle sprach, der neben ihr herging, oder mit ihrem Bruder oder mit der kleinen Sophie. Einmal war es ganz deutlich Sophie, in einem hellen Sommerkleid und großem gelben Hut, die sie überreden wollte, nach Stuttgart zu kommen.
In den Sommermonaten wurde das Leben ein Stück weit erträglicher. Im Schutz der Dämmerung stahl sie Feldfrüchte oder Obst von den Bäumen, stillte ihren Durst an klaren Wasserläufen, konnte bei den Erntearbeiten mithelfen. Sie kam halbwegs wieder zu Kräften. Noch vor dem nächsten Winter, schwor sie sich, würde sie zu Sophie und ihrem Friedemann in die Hauptstadt gehen. Denn die Hoffnung, ihre Tochter wiederzufinden, hatte sie endgültig aufgegeben.
Doch bis Stuttgart sollte sie gar nicht erst kommen. Stattdessen hatte sie den letzten Winter im Arbeitshaus verbracht, genauer gesagt: in der polizeilichen Corrections- und Beschäftigungsanstalt Rottenburg. Hatte dort zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, mit immer denselben Handbewegungen Wollfäden zu Garn verzwirnt und die Nächte in einem eisigen Schlafsaal verbracht, in Gesellschaft von verarmten Witwen und Dienstboten, ledigen Müttern und aufsässigen Straßenkindern, von Blödsinnigen, Bettlerinnen, Huren und Betrügerinnen.
Und das nur, weil sie sich auf ihrer Reise in die Hauptstadt dieser zwielichtigen Person angeschlossen hatte, einer jungenbildhübschen Magd namens Wilhelmine. Schon gleich bei ihrer ersten Übernachtung in dem Universitätsstädtchen Tübingen hatte sie gemerkt, mit welch anrüchigen Diensten Wilhelmine ihr Auskommen fand, aber da war es bereits zu spät gewesen. Die beiden Schustergesellen, die sie anfangs so großzügig bewirtet hatten, waren schnell zur Sache gekommen: Der ältere der beiden hatte Theres einen speichelnassen Kuss auf den Mund gedrückt, ihr dabei ungeniert die Hand unter den Rock geschoben. Mit einem Aufschrei hatte sie ihn zurückgestoßen und war hinaus auf die finstere Gasse gestürzt, ausgerechnet einem Polizeidiener in die Arme. Damit hatte der Abend sein abruptes Ende gefunden. Nach drei Tagen und drei Nächten im Tübinger Arresthaus hatte man sie nach Rottenburg verfrachtet, auf ein Jahr Correctionsstrafe wegen Verdachts auf Unzucht und moralischer Verderbtheit – bei Nachforschungen war man doch tatsächlich auf das Strafgeld in Ulm gestoßen und sogar an einen Krankenbericht, in dem ihr erste Anzeichen von Syphilis bescheinigt wurden.
Nein, sie sei keineswegs eine Gefangene, hatte ihr der Anstaltsleiter Dekan Forthuber am Tage der Einweisung erklärt. Zu ihrer Besserung sei sie hier, um an Disziplin, Ordnung und Fleiß gewöhnt zu werden, und sofern sie ordentliches Betragen und Arbeitsfreude an den Tag lege, könne sich ihr Aufenthalt erheblich verkürzen. Dann hatte man ihr das Haar geschnitten und sie in einen mausgrauen Anstaltskittel gesteckt. Von der Stubenältesten war sie am selben Abend mit sieben Rutenstreichen auf das nackte Hinterteil willkommen geheißen worden, sodass sie ihre erste Nacht unter den vergitterten Fenstern, wo Pritsche an Pritsche stand, auf dem Bauch hatte verbringen müssen.
Von diesem Tag an hatte Theres ungefragt kein einziges Wort mehr gesprochen. Sie wehrte sich nicht gegen die Sticheleienund Boshaftigkeiten, denen sie als Neuling ausgesetzt war, noch gegen die Stockhiebe der Aufseherin, wenn sie zu langsam arbeitete. Wahrscheinlich hätte sie stumm und klaglos das vorgesehene Jahr abgesessen, wäre ihr nicht an jenem Morgen im März Johanne erschienen.
«Mama?» Ein kleines Mädchen mit goldblonden Locken, kaum vier Jahre alt, stand plötzlich neben ihrem Bett im fahlen Schein des Morgenrots und musterte sie.
«Wer bist denn du?»
«Kennst mich nicht? Ich bin die Johanne.»
Tränen des Glücks schossen Theres in die Augen. Sie richtete sich auf und nahm das Kind in die Arme.
«Ich hab gewusst, dass ich dich wiederseh», murmelte sie. Dann erschrak sie. Wie zerbrechlich das Kind war! Und wie heiß das kleine
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