Die Bettelprophetin
Stiegele! Ich will wirklich nicht Ihren langjährigen Erfahrungsschatz als Oberamtsarzt in Frage stellen – aber wir sollten, wenn nicht einen Geistlichen, so doch zumindest eine dritte Fachkraft hinzuziehen. Wie wäre es mit Oberamtsarzt Hofer aus Biberach? Er soll ein Spezialist sein auf dem Gebiet der weiblichen Hysterie.»
Theres versank wieder in ihren Dämmerschlaf. Mehr als drei Jahre lag nun Johannes Geburt schon zurück – Jahre, in denen das Schicksal Theres mehr als einmal an den Rande des Abgrunds geführt hatte und sie sich am Ende oft nichts sehnlicher gewünscht hatte, als zu sterben.
Jene Wochen damals im Spital, die sie mit ihrer Tochter verbracht hatte und die vielleicht die glücklichsten für den Rest ihres Lebens gewesen sein mochten, hatten bereits ausgereicht, um die engen, unzerstörbaren Bande der Mutterschaft entstehen zu lassen. Auch wenn ihr an gemeinsamer Zeit nur die Stillzeiten vergönnt waren, die sie dank der gutmütigen Kindsmagd über das Nötige hinaus ausdehnen durfte, so hatte sie ihre Tochter zu lieben begonnen wie sonst nichts auf der Welt. Niemals würde sie den Anblick vergessen, wenn Johanne, nachdem sie endlich mit einem kleinen Seufzer die Brust zu fassen bekommen hatte, die Augen schloss, zufrieden saugte und dabei ihre winzigen Fingerchen um Theres’ Daumen schloss.
Doch dann kam jener frostig-kalte Tag Ende Februar: Sie hatte die Kinderstube betreten und Johannes Bettchen leer gefunden. Mit betretener Miene hatte die Kindsmagd sie angewiesen, sie möge doch die Spitalmutter aufzusuchen, um einige Papiere zu unterschreiben – das Kind hätte neue Elterngefunden. Da hatte Theres zu schreien begonnen, hatte um sich geschlagen und niemanden näher als drei Schritt an sich herangelassen, bis sie kaum noch Luft bekam und ihr Schreien in verzweifeltes Wimmern überging. Diesen Schmerz beim Anblick des leeren Bettchens würde sie ihr Lebtag niemals vergessen: Ihr war, als habe man ihr ein Stück aus ihrem Leib gerissen und aus ihrer Seele dazu.
Man hatte sie nach ihrem Anfall damals umgehend aus dem Spital entfernt, indem man sie in aller Eile mit den notwendigen Entlassungs- und Reisepapieren versehen und sie mit ihren wenigen Habseligkeiten vor die Tür gesetzt hatte. Mutterseelenallein war sie nun in diesem Ulm, seitdem Sophie mit ihrem Friedemann in die Hauptstadt gezogen war. Ebenso gut hätte man sie in der Wüste oder in einem einsamen Wald aussetzen können.
Nachdem sie einigermaßen zu sich gekommen war, hatte sie sich auf den Weg gemacht: zunächst zu den Kleinbubs, die sie zu ihrer Überraschung ohne Aufhebens für eine Nacht beherbergten, dann weiter Richtung Süden. Irgendwo nämlich im Oberamt Ravensburg hatte man ihre Johanne zu Pflegeeltern gebracht. Wohin, hatte man ihr verschwiegen. Mehr noch – es war ihr gegen Strafe verboten, auch nur nach ihrem Kind zu suchen.
Ohne sich davon abhalten zu lassen, hatte sie vom Frühjahr bis Herbst die Höfe des Oberlands abgeklappert, bis hinauf auf die Alb. Hatte sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten und dabei Augen und Ohren offen gehalten, ob nicht im Dorf ein fremder Säugling untergekommen war. Sie hätte Johanne auf Anhieb erkannt, mit ihrem rötlich schimmernden Flaum auf dem Kopf, dem schmalen Gesichtchen mit der hohen Stirn und dem apfelkerngroßen Muttermal auf dem Rücken. Doch ihre Suche war vergebens, im ersten wie imzweiten Jahr ihrer Wanderschaft. Dennoch hätte sie niemals aufgegeben, auch als sie sich eines Tages sagte, dass Johanne nun schon würde laufen und die ersten Worte sprechen können.
Jene drei Jahre hinterließen Spuren in ihrer Seele: Noch häufiger als schon in den Jahren zuvor wurde sie krank oder litt an Schlaflosigkeit und Erschöpfungszuständen. Sie kämpfte ums Überleben in diesen Zeiten der Not, in denen es immer schwieriger wurde, mit seiner Hände Arbeit sein Brot zu verdienen. Zahlreiche Missernten und Teuerungen und nicht zuletzt die verheerende Kartoffelfäule hatten das Königreich Württemberg wirtschaftlich niedergestreckt. Das Geld war nichts mehr wert, das Korn in den Schrannen wurde gehortet und von Spekulanten ins Ausland verhökert, während das Brot täglich teurer wurde und das Volk hungerte. Dazu suchten Schwindsucht und Hungertyphus die Geschwächten heim. Knechte und Mägde vom Land strömten massenweise in die Städte, auf der Suche nach Arbeit oder in der Hoffnung auf Almosen; Väter verließen ihre Familien, um irgendwo ein Auskommen zu
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