Die Bettelprophetin
größten Not auch mal Gräser und Blätter, und wenn sie auf Häuser stieß, wartete sie die Dunkelheit ab, um sich in Backstuben, Mühlen oder Kornkammern zu schleichen und dort nach Essbarem zu suchen.
Einmal wurde sie dabei von einem Dorfschultes erwischt und musste zur Strafe drei Wochen lang beim Wege- und Brückenbau mitarbeiten. Als sie endlich weiterziehen durfte, war es bereits Ende April, und eine quälende Unruhe in ihr ließ sie nachts kaum noch schlafen.
Eines Abends gelangte sie zu einem Dorf, an dessen Rande sich Kirche und Gottesacker befanden. Bei Einbruch der Dunkelheit kletterte sie über die Kirchhofsmauer und suchte sich einen geschützten Schlafplatz zwischen den Gräbern. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf einem Friedhof übernachtete: Zum einen kam des Nachts kein Mensch hier heraus, zum andern gab es etwas Unerklärliches, dass sie zu dieser Ruhestätte der Toten hinzog.
Kirche und Gottesacker befanden sich auf einer Kuppe, von der aus man weit übers Land blicken konnte. Als sie sich jetzt umsah, brach ein voller Mond durch den Wolkenteppich und tauchte die Welt in sein silbernes Licht. Ihr war, als hätte sie das schon einmal erlebt, dieses Licht, diese Einsamkeit, diese fast schon schmerzvolle Stille. Ihr Blick schweifte nach Westen, wo ein schwacher Schein den Ort der untergegangenen Sonne verriet. Zwei helle, schlanke Türme ragten dort eng nebeneinander in den Himmel, das ihr wohlvertraute Bild eines Doppelkirchturms. Sie schwankte, suchte Halt an dem Grabstein neben sich. Der Stein war erschreckend kalt. Augenblicklich begann sie zu zittern, ihre Zähne schlugen aufeinander.
«Zwiefalten», hörte sie hinter sich eine dumpfe Stimme. «Maria, die Gute. Maria, die Irre. Hörst du die Glocken von Zwiefalten?»
«Ja», presste Theres hervor. Sie hörte jetzt tatsächlich leisen Glockenklang. «Wer bist du?»
«Der, dessen Namen keiner nennt. Dein Beschützer.»
Sie zwang sich, den Kopf zu wenden. Zwischen den schwarzen Umrissen der Grabmäler und Wacholderbüsche irrte ihr Blick hin und her.
«Du bist auf dem richtigen Weg, auf dem Weg zu mir», flüsterte die Stimme erneut. «Erinnerst du dich? Dein Hader mit Gott, dein kraftvoller Fluch, dein Mut, sich dem Allmächtigen zu widersetzen? Das geschundene, bleiche Gesicht der Mutter Gottes, ihr Sohn im Arm, ihr Sohn am Kreuz, mit zerschlagenen Füßen? Erinnerst du dich? Erinnerst du dich?»
Die Stimme wurde schrill. Theres presste die Hände gegen die Ohren. Dennoch hörte sie die Worte: «Du gehörst mir», sah einen schwarzen Busch sich bewegen, Augen wie glühende Kohlen traten daraus hervor. Sie wich zurück. Ihre Füße schienen festgeklebt auf dem Erdboden, jede Bewegung kostete sie schier unmenschliche Kraft. Eine fahle Fratze löste sich aus dem Schwarz des Gebüschs, näherte sich ihr – da endlich ließ der Erdboden sie los, und sie vermochte zu rennen.
Quer über die Grabstätten rannte sie, hinüber zur Mauer, die jetzt, von der Innenseite her, viel höher und unüberwindlich schien. Gleich einem gefangenen Tier rannte sie die Mauer entlang, auf der Suche nach einem Schlupfloch. «Du bist böse. Du gehörst mir», rief leise und lockend die Stimme. Da prallte sie gegen einen Haufen Steine, kletterte hinauf, die Steine rollten unter ihr weg, doch sie bekam die Mauerkante zu fassen, stemmte sich hinauf und sprang auf der anderen Seite hinunter. Hart landete sie auf steinigem Untergrund, rutschte ein Stückweit einen Abhang hinunter, bis sie in einem schmalen Trockental zum Halten kam.
Sie rang nach Luft. Ihre rechte Handfläche war aufgerissen, beide Knie bluteten. Als sie aufstand, merkte sie, dass sie sich den Knöchel vertreten hatte und nur noch humpeln konnte. Sie befand sich jenseits des Dorfes, ein Hund schlug von dort wütend an, andere fielen mit ein.
Bis zu einem verlassenen Schafstall schleppte sie sich noch, dann ließ sie sich auf die Erde fallen. Sie hätte laut losheulen mögen, aber ihrer Brust entrang sich nur krampfartiges, trockenes Schluchzen. Ganz genau wusste sie, wer sie da gerufen hatte, wer sie beinahe zu fassen bekommen hätte. Sie blickte hinauf zu den Sternen, die kalt am Himmel klebten, ihre Hände tasteten über den harten Erdboden. Alles um sie herum war tot. Auch sie selbst war tot. Nur ihr Atem rasselte, nur ihr Herz schlug noch. Der Rest von ihr war abgespalten wie mit einer stählernen Axt.
Wäre sie nur auf dem Kirchhof geblieben. Dann hätte diese unerträgliche Einsamkeit
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