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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Aufmerksamkeit wieder den Bildern vor dem Fenster zu: Weingärten, in denen bald schon die kleinen roten Burgunderbeeren reifen würden, wechselten sich ab mit Spalieren von hohen Stangen, an denen der Hopfen rankte, dazwischen Obstbäume, die sich unter der Last ihrer Früchte verrenkten. Winzig kleine Menschen stapften in der Ferne über einen Feldweg. Da tauchte auch schon der turmreiche Umriss Ravensburgs auf.
    Theres beugte sich vor zu Doktor Lingg und berührte scheu seine Hand: «Sie werden im Spital wirklich nach meiner Johanne fragen?»
    «Ja doch, das hab ich versprochen. Aber du weißt auch, dass du kein Recht auf sie als Mutter hast.»
    «Sofern diese ganze Geschichte überhaupt der Wahrheit entspricht», knurrte der andere aus Waldsee.
    Sie seufzte tief auf und lehnte sich wieder zurück. Wäre sie diese gelehrten und blasierten Herren nur recht bald wieder los. Bis auf den jungen Lingg – der hatte etwas, das ihr Vertrauen gab.
     
    «Lassen Sie mich los! Loslassen!»
    Theres schlug und kratzte und biss, während mehrere kräftige Männerarme sie zurück aufs Bett drückten.
    «Festgurten», hörte sie den Ravensburger Oberamtsarzt, der sich Reiffsteck nennen ließ, im Kasernenton befehligen. Kühles Leder drückte auf ihre nackte Haut und presste sich so fest gegen ihre gespannten Muskeln, dass es schmerzte. Jemand öffnete mit seinen Fingern gewaltsam ihre Lippen, eine bittersüße Flüssigkeit rann ihr die Kehle hinab und aus ihren Mundwinkeln. Sie schlug den Kopf hin und her, begann zu husten.
    «Ich will zu ihr», stammelte sie. «Ich will sie sehen.»
    «Aber sie ist längst unter der Erde, Theres.» Das war die sanfte Stimme des jungen Lingg. «Gott hat sie zu sich genommen, deine kleine Johanne.»
    Er flößte ihr noch einen letzten Rest der Flüssigkeit ein.
    «Alles wird gut. Jetzt schlaf erst mal.»
     
    Als Theres wieder erwachte, tauchte über ihr aus milchigem Dunst das spitzbärtige Gesicht von Doktor Hofer auf. Es grinste.
    «Da sind wir doch zum rechten Augenblick vom Mittagstisch zurück. Sie wird wach.»
    Jemand fühlte ihren Puls. «Schwach und unregelmäßig.»
    Sie schloss die Augen und kehrte zurück auf ihre sommerwarme Wiese, wo sie eben noch mit ihrer kleinen Tochter Blumen gepflückt hatte. Doch jetzt konnte sie Johanne nirgends mehr entdecken. Stattdessen tauchten am Horizont vier schwarzgekleidete Gestalten mit hohen Zylinderhüten auf und näherten sich ihr eiligen Schrittes. Sie wollte davonlaufen, aber ihre Füße staken fest in einem sumpfigen Loch. Sie begann zu zappeln und zu rudern, um freizukommen. Schrie, bis ihr schließlich eine flache Hand rechts und links gegen die Wangen klatschte.
    «Mach die Augen auf. Los!»
    Jetzt beugten sich zwei Gesichter über sie: das des Ravensburgers und das von Hofer.
    «Gut so. Sieh mich an.»
    Ihr Blick flackerte zwischen den beiden hin und her. Jemand band ihre Handgelenke los.
    «Und jetzt berühre mit dem Zeigefinger meine Nase.»
    Sie hätte nicht sagen können, wer von den zweien gesprochen hatte. Mit einem Ruck hob sie die Arme und ballte ihre Hände zur Faust.
    «An welcher Krankheit ist sie gestorben?», rief sie verzweifelt.
    «Sehen Sie, werte Herren Kollegen?» Oberamtsarzt Reiffsteck wandte den Kopf zur Seite, als habe er Theres’ Frage nicht gehört. «Ein eindeutiger Fall von Ataxie.»
    Doktor Hofer nickte. «In der Tat bemerkenswert. Haben sich die dissoziativen Bewegungsstörungen und Krampfanfälle bereits in Waldsee gezeigt? In diesem Fall würde ich meinerseits mit Magnetisierung arbeiten. Das beruhigt den Organismus ungemein.»
    «Nun   …» Die Stimme von Oberamtsarzt Stiegele kam vom Fußende des Bettes her. «Ich würde nach wie vor behaupten, dass dieses Weib   …»
    «Johanne!» Theres hämmerte mit den Fäusten auf das Bettlaken. «Warum ist sie tot?»
    Lingg trat in ihr Blickfeld. Sein Blick war voller Mitleid.
    «Das Kind hatte die Schwindsucht.»
    Theres begann leise zu schluchzen.
    «Vielleicht sollten wir Visite und Diagnose an diesem Punkt unterbrechen», hörte sie Lingg sagen und sah, wie er zu dem schwarzen Büchlein griff, das auf der Fensterbank lag. «Das arme Fräulein braucht jetzt vor allem Trost und Beistand.»
    Der junge Arzt blätterte in den Seiten.
    «Ganz ruhig, Theres Ludwig, ganz ruhig», murmelte er und hielt mit der freien Hand ein kleines Kruzifix in die Höhe. Dann sagte er mit erhobener Stimme: «Hör zu, was unser Herr Jesus Christus spricht:
Die Starken bedürfen des

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