Die Bettelprophetin
wenigstens ein Ende gehabt.
Theres ahnte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Sie war die letzten Tage in die Irre gegangen und nun in Aulendorf gelandet, einem Marktflecken abseits ihres Reiseweges. Aber wenn sie morgen gleich bei Sonnenaufgang losging, konnte sie es bis zum Abend schaffen nach Ravensburg. Sie musste nur der Schussen flussabwärts folgen, hatte ihr die alte Frau auf dem Krämermarkt erklärt.
Der hatte sie geholfen, ihre Irdenware zusammenzupacken und auf eine Karre zu laden, und sich damit einen Kanten Brot verdient. Jetzt saß sie unter dem Blätterdach eines Ahorns, vor sich das uralte Aulendorfer Schloss, das seltsamerweise mit der Pfarrkirche zusammengebaut war und so gar nicht zu den einfachenHäusern rundum passen mochte. Nachdem die letzten Krämer den Markt verlassen hatten, zog sie ihre Errungenschaft aus der Schürze: ein rosenrotes Ziertüchlein mit Spitzenbesatz, in dessen eine Ecke ein blumenumkränztes «J» eingestickt war – ein «J» wie Johanne.
Dieses Taschentuch hatte sie am Stand neben dem der Häfnersfrau entdeckt. Sie hatte es gesehen und gewusst, dass sie es haben musste für ihre kleine Tochter. Die Gelegenheit kam, als der Marktmeister seine Runde machte, um das Ende der Marktzeit anzukündigen und dabei die Lizenzen zu kontrollieren. Nicht weit von Theres war deshalb ein lautstarker Disput ausgebrochen, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog, und Theres hatte zugegriffen.
Sie würde das hübsche Tüchlein Johanne schenken, als Andenken an sie, ihre leibliche Mutter. Denn Theres hatte sich fest vorgenommen, sich dem Kind gegenüber zu erkennen zu geben, selbst wenn dies ein Strafgeld nach sich ziehen würde.
«Was für ein wunderschönes Taschentuch!», sagte eine Männerstimme hinter ihr, und im nächsten Augenblick schon wurde sie hart an beiden Armen gepackt und in die Höhe gezerrt. Vor ihr standen der Marktmeister und der Krämer vom Nachbarstand.
«Nur dumm, dass du es nicht bezahlt hast!», zischte der Krämer und riss ihr das Tuch aus der Hand.
«Ich hab’s nicht gestohlen», protestierte Theres. «Es lag auf dem Boden, nachdem Sie zusammengeräumt hatten. Ich hab’s nur aufgehoben.»
«Das kannst du dem Richter erzählen.» Der Marktmeister band ihr die Handgelenke auf dem Rücken zusammen. Dabei wandte er sich an den Krämer: «Ich nehm sie gleich mit ins Oberamt Waldsee. Dort wird sie schon ihre gerechte Strafe bekommen.»
24
Heilig-Geist-Spital Ravensburg, Sommer 1848
Ruf der Fahrt von Waldsee nach Ravensburg blieb Theres vollkommen ruhig. Aufmerksam betrachtete sie die Landschaft, die vor dem Fenster vorüberglitt. Das Grün der Bäume verblasste bereits, die Felder trugen ihr Korn fast erntereif. Nach etwa vier Stunden Fahrt grüßte linker Hand, im goldgelben Schein der Nachmittagssonne, die ehemalige Klosterkirche von Weingarten wie eine alte Bekannte, und Theres grüßte zurück. Streckte den Arm zum Fenster hinaus und winkte und lachte dabei.
«Man merkt, dass du in deine Heimat kommst.»
Amtsarzt Lingg, der ihr unmittelbar gegenübersaß, lächelte ihr freundlich zu. Die beiden anderen Mediziner starrten mit schweißbedeckter Stirn vor sich hin. Die Luft in der engen Kutsche war heiß und stickig, zu stickig für anregende Fachgespräche.
Zu Beginn der Reise hatte Theres gefragt, ob sie denn so sterbenskrank sei, dass gleich drei Ärzte sie begleiteten. Der Neue im Bunde, jener Doktor Hofer aus Biberach, hatte schallend gelacht.
«Das nicht gerade. Aber ein höchst interessantes Exemplum bist du schon.»
Zu fragen, was ein Exemplum sei, hatte sie nicht gewagt, befürchtete aber, dass dies jene Art von Wesen war, die man in den Abnormitätenkabinetten der Jahrmärkte bestaunen konnte.
Jetzt zog sie die beiden Holzpferdchen aus ihrer Schürzentasche, die sie als einzige Besitztümer stets bei sich hatte, und hielt sie hinaus.
«Ein Gruß an den Urle!», rief sie in Richtung Sankt Martin,bevor der mächtige Kirchenbau aus ihrem Blickfeld verschwand.
«Sie scheint mir doch sehr, sehr kindlich», flüsterte Medizinalrat Hofer und zupfte sich an seinem schwarzgefärbten Spitzbart.
Stiegele schüttelte den Kopf. «Auch das gehört mit zu ihrem Spiel, glauben Sie mir.»
«Vielleicht aber», warf Lingg vorsichtig ein, «liegt es ja auch an dem Beruhigungselixier, das wir ihr zuvor verabreicht haben.»
Theres ärgerte sich einen kurzen Moment lang, dass man über sie sprach, als sei sie nicht vorhanden, dann wandte sie ihre
Weitere Kostenlose Bücher