Die Bettelprophetin
metallener Trichter wurde ihr über Mund und Nase gestülpt, ein süßlicher Geruch breitete sich aus, danach war nichts mehr.
25
Pfarrgemeinde Weissenau, Herbst 1848
Theres blinzelte, schloss die Augen, öffnete sie erneut. Sie konnte nicht glauben, wer da auf dem Schemel neben ihrem Bett saß und sie aufmerksam betrachtete.
«Nun sehen wir uns also wieder.» Patriz Seibold lächelte. «Geht es Ihnen besser, Fräulein Theres?»
Sie nickte.
«Das ist gut.»
Pfarrer Seibold löste nach und nach alle Gurte. Theres war wieder frei.
«Können Sie aufstehen? Ich möchte ein paar Schritte mit Ihnen gehen.»
Ganz allmählich begriff sie, dass der Pfarrer der einzige Besucher im Raum war. «Sind die anderen fort?»
Seibold nickte und half ihr, sich aufzurichten. Nach wenigen unsicheren Schritten durch die Krankenstube schwankte sie und sank gegen Seibolds Schulter.
«Es ist immer noch in mir drin», flüsterte sie.
Seibold hielt sie fest im Arm. «Was?»
«Das Böse. Ganz tief drinnen. Es macht mir Angst.»
Sie sprach sehr leise, weil sie nicht wollte, dass irgendjemand außer Seibold sie hörte.
«Ich werde dir helfen. Ich nehme dich mit zu mir.»
Seibold war zum Du übergegangen, und Theres spürte, wie gut ihr das tat.
«Wohin?»
«Ins Pfarrhaus von Weissenau, drei Viertelstunden von hier. Ich werde eine Kutsche rufen lassen.»
«Darf ich so einfach weg von hier?»
«Aber ja. Der Stadtrat hat heute zugestimmt, dass du auf einVierteljahr zu mir ins Pfarrhaus kommst. Auch mit den Ärzten und mit Dekan Erath ist alles besprochen.»
«Sie kennen diese Männer?»
Als er jetzt lachte, wirkte sein Gesicht ganz jung. «Ich hatte die letzten Tage ausreichend Gelegenheit, die Herrschaften kennenzulernen. Und Dekan Erath ist mein Vorgesetzter. Ich war zufällig bei ihm, als er zu dir gerufen wurde. Als ich erfuhr, wie schlecht es dir ging, bat ich ihn, mitkommen zu dürfen.»
Sie dachte angestrengt nach, doch es gelang ihr nicht, Klarheit in ihrem Kopf zu schaffen.
«Dann waren Sie also hier bei mir, ohne dass ich es bemerkt habe. – Hab ich viele böse Dinge gesagt?»
«Ja, Theres.» Sein Gesicht wurde ernst.
«Auch gegen meine Mutter?» Daran erinnerte sie sich plötzlich ganz vage.
«Auch gegen deine Mutter. Aber es war der Dämon, der aus dir gesprochen hat, nicht du. Jetzt setz dich aufs Bett und ruh dich noch ein wenig aus. Ich lass die Kutsche rufen.»
Als sie bald darauf in einem leichten, offenen Einspänner die Stadt verließen, erwachte sie einen Augenblick aus ihrer dumpfen Betäubtheit und hob den Kopf. Alles hier hatte sich verändert. Vom alten Kästlinstor war nichts mehr zu sehen, Torturm samt Vortor mit Brücke waren abgetragen, der Graben verfüllt. Dafür war an der Straße zum Bodensee eine neue Vorstadt entstanden, mit großen, neumodischen Wohnhäusern.
«Da staunst du, was? Ja, hier hat sich ungeheuer viel getan. Die Reichen machen es sich bequem, und auf dem Lande hungern die Menschen.»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», erwiderte sie nur.
«Siehst du das?»
Er deutete auf eine Gruppe von Gebäuden und Schuppen schräg hinter ihnen, etwas abseits der Stadt.
«Der Bahnhof. Den kennst du gewiss noch nicht. Mit der Südbahn kommst du jetzt in nur vierzig Minuten zum See. Bald ist die Strecke bis Ulm fertiggestellt, und irgendwann werden die Menschen in Windeseile durch ganz Deutschland reisen können und werden dann noch entwurzelter sein, als sie es jetzt schon sind.»
In diesem Moment durchbrach ein greller, langgezogener Pfiff das gleichmäßige Hufgeklapper ihres Kutschpferdes. Ein scharfer Ruck fuhr durch Theres’ Körper, sie schrie auf und klammerte sich in ihrem Entsetzen an den Pfarrer. Auch das Pferd scheute, bäumte sich in der Deichsel, raste dann ein ganzes Stück weit im Galopp über die holprige Straße, bis der Kutscher es endlich wieder in der Gewalt hatte. Nicht weit von ihnen war aus einer Baumgruppe ein metallisch glänzendes Ungeheuer aufgetaucht, das aus einer Art Schornstein dichten Rauch ausspie und dessen Räder auf unbegreifliche Weise von Eisenstangen bewegt wurden. Selbstredend kannte Theres solche Lokomotiven von Bildern her – aber was sie hier in natura sah und vor allem hörte, überstieg alle Phantasien. Ihr Herz schlug in wilden Sprüngen, ihr Magen hob und senkte sich, und sie befürchtete, spucken zu müssen. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: In einem solchen Gefährt konnte nur einer durch die Welt rasen – der Böse selber, der
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