Die Bettelprophetin
ihren Augen nicht.
«Pauline?»
Die junge Frau nickte und sank auf die Knie.
«Theres! Dass ich das erleben durfte! Ich hab’s immer gewusst – ich hab’s immer gewusst», begann sie zu stammeln.
«Was meinst du damit?»
«Dass du etwas Besondres bist. Alsdann – Gott schütze dich.» Mit diesen Worten huschte Pauline hinaus.
Theres sah ihr nach. Die kleine Pauline aus Weingarten, die immer ihre Freundschaft gesucht hatte – sie hatte sich kaum verändert. Theres wusste nicht, ob sie sich über dieses Wiedersehen freuen sollte oder nicht.
«Ihr beide kennt euch aus dem Waisenhaus, nicht wahr?»
«Ja, Herr Pfarrer. Aber – wie kommt sie hierher?»
«Sie ist Magd im Dorf und eine meiner eifrigsten Kirchgängerinnen von Anfang an.»
«Und all die anderen?»
«Alles Schäfchen meiner Gemeinde. Sie waren mit dir, bei deinem schweren Kampf.»
Die Alte, die Käthe hieß, schüttelte den Kopf. «Ich frag mich, ob das gut ist. Diese Pauline hätt’s nicht überall rumposaunen sollen. Zu Hunderten sind die Leut hergekommen, von sonst woher, grad als ob unser Pfarrdorf ein wahrer Gnadenort wär. Das war ja kaum auszuhalten.»
«Ach, Käthe, wie kannst du an einem solchen Jubeltag so ärgerliche Gedanken haben?»
«Ich mein ja nur – so viel Aufsehen in unserer kleinen Gemeinde, das kann einem fast schon bange machen. Manchmal kann aus einem warmen Herdfeuer ungewollt eine tödliche Feuersbrunst entstehen.»
Der Pfarrort Weissenau, südlich der Stadt in schönster Lage mitten im Schussental gelegen, war ganz und gar kein herkömmliches Bauerndorf. Eine geschlossene, vierflügelige Klosteranlage, in deren nördlichen Trakt eine prächtige, doppeltürmige Kirche eingefügt war, beherrschte das Bild. Allerdings war die einstige Reichsabtei längst aufgehoben, und die zahlreichen, noch aus alten Zeiten stammenden Wirtschaftsgebäude beherbergten nun eine Hammerschmiede, eine Ziegelei, drei Mühlen, in deren einer seit kurzem eine Nudelfabrik untergebracht war, eine Schildwirtschaft sowie das königliche Revierforstamt.
Die größten Gebäude allerdings sowie der gesamte Süd- und Ostflügel des Konventsgebäudes wurden von der Bleich- und Appreturanstalt des Schweizer Unternehmers Eduard Erpf eingenommen, einer höchst modernen Fabrikationsanlage mit Dampfkesseln, hydraulischer Presse, einer Walke mit sechs Stampfen und Dutzenden mechanischer Webstühle. Die weite Rasenfläche nach Süden hin diente zum Bleichen der Leinen- und Baumwollwaren und glich an sonnigen Tagen einem gleißenden Schneefeld. Schornsteine stießen unablässig Rauchwolken in die Luft, und wenn das Glöckchen zum Feierabend läutete, bevölkerten zahllose Männer mit der kehligen Mundart der Schweizer das Areal. Auch diese Ausländer lebten hier im ehemaligen Kloster.
Im Westflügel neben dem Kirchenportal schließlich befanden sich der Schulsaal der Elementarschule, die der Aufsichtvon Patriz Seibold unterstand, im Stockwerk darüber Seibolds geräumige Wohnung sowie die etwas kleinere des Lehrers, der zugleich Mesner und Organist war. Die übrigen Häuser des Dorfes befanden sich vor dem Torhaus jenseits der Anlage, die von einer geraden Straße mit einem ebenso geraden Mühlkanal durchzogen war. All diesen Menschen hier sowie den Bauern der Umgebung diente die ehemalige Klosterkirche Sankt Peter und Paul nun als Pfarrkirche.
In den ersten Tagen wagte Theres nicht, die schützende Pfarrstube zu verlassen, so rast- und ruhelos erschien ihr das Treiben rundum. Manchmal zwang sie sich, sich aus dem geöffneten Fenster zu lehnen und hinunterzuschauen, um wenigstens in geringstem Maße teilzuhaben am täglichen Leben draußen. Fuhrwerke rumpelten die Straße auf und ab, Erpfs Arbeiter hasteten zwischen den Gebäuden hin und her oder wuselten drüben auf der Bleiche wie Ameisen. Man wusste gar nicht, wohin schauen, nirgendwo bot sich dem Auge ein ruhiges Fleckchen, dazu dieser Lärm vom Gestampfe der Walke, vom Ächzen des Wasserrads, dem Geknatter der Tücher im Wind. So hielt es Theres nie länger als ein leise gemurmeltes Vaterunser aus, um dann wieder erschöpft das Fenster zu schließen. Einmal hatte sie sich mit aller Gewalt am Sims festhalten müssen, damit ihr Oberkörper nicht nach draußen in die Tiefe kippte.
Aber immerhin vermochte sie wieder zu beten, auch wenn sie nicht spürte, wer ihre Worte entgegennahm. Und nach einer Woche schon begleitete sie Seibolds Haushälterin zum täglichen Rosenkranzbeten. Das Gehen fiel
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