Die Bettelprophetin
wundersamen Marienerscheinungen und wollten nun Genaueres erfahren.
«So wissen wir nun endlich», der Blick des Pfarrers ruhte auf Theres, «was mit Theres Ludwig, deren Schicksalsweg den unseren gekreuzt hat, geschehen ist: Theres wurde offenbart, dass sich ihr eigener Vater dereinst, um zu Geld zu kommen, dem Teufel verschrieben und hierfür das Bildnis des Gekreuzigten und der seligsten Jungfrau alle Freitage mit einer Rute gegeißelt hatte. Diese solchermaßen geschändeten Gegenstände liegen nun auf der Heide zu Eglingen in der Erde vergraben und müssen, so von der Jungfrau Maria geoffenbart, geborgen und ins Kloster Einsiedeln gebracht werden. Nur so kann dieser Frevel ungeschehen gemacht werden. Gleich morgen wollen wir uns auf den Weg nach Eglingen machen. Wer von euch uns begleiten möchte, ist hierzu von Herzen eingeladen.»
Aus Seibolds Mund klang dies alles ganz fremd und seltsam, und Theres fragte sich zum wiederholten Male, ob ihr die Heilige Jungfrau tatsächlich erschienen war oder ob sie das nur geträumt hatte. Eines allerdings wusste sie mit Sicherheit: Welche Macht auch immer sie damals zu jener Freveltat, die sie über viele Jahre aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte, angestiftet hatte: Sie musste es wiedergutmachen. Zugleich machte sich Furcht in ihr breit, wenn sie an den morgigen Tag dachte. Würde sie die Stelle überhaupt wiederfinden? Und wenn ja, was würde mit ihr geschehen? Würde sie womöglich dann von Gott ihre gerechte Strafe empfangen?
Ihr wäre es um so vieles lieber gewesen, allein mit Patriz Seibold loszuziehen, für den sie ein fast kindliches Vertrauen empfand. Als jedoch nach dem Segen und der Entlassung die Kirchgänger sie umringten und jeder sie berühren wollte und sie schließlich nur mit Käthes und Paulines Hilfe der Menschenmenge entkam, da ahnte sie, dass ihre Wanderung auf die Albeiner Prozession gleichkommen würde. Hin und her gerissen fühlte sie sich zwischen dem Verlangen nach Alleinsein und tiefer Freude über die Anteilnahme all dieser Menschen hier.
26
Wallfahrt und Weissenau, Herbst 1848
Theres blieb stehen und wandte sich ein letztes Mal um. Die Wälder rundum hatten bereits ihre goldene Herbstfärbung angenommen. Am anderen Ufer des Sees, unter der scharfzackigen Silhouette des Gebirges, wo die ersten Schneefelder glänzten, schimmerten die Türme und Klostermauern von Maria Einsiedeln in der Morgensonne. Auch dieses wichtige Ereignis lan nun hinter ihr, und sie spürte in sich wieder diese Leichtigkeit, die sie am Vortag bei ihrer Begegnung mit der Schwarzen Madonna ergriffen hatte. Das geheimnisvolle, dunkle Gesicht nämlich hatte gelächelt, als Theres ihr Kruzifix und Marienbild als Votivgabe dargebracht hatte, und der rechte Arm unter dem prachtvoll bestickten Brokatbehang hatte sich bewegt, als wollte er Theres segnen. Auch das schwarze Jesuskind in ihrem anderen Arm hatte still gelächelt.
Da hatte Theres sich niedergeworfen vor der Gnadenkapelle aus schwarzem Marmor und stundenlang den Rosenkranz gebetet, und ihr war tatsächlich, als fielen nach und nach alles Schwere, Düstere und Böse von ihr ab. Hernach hatte sie drei Kerzen entzündet, für ihre Mutter, für Urle und für ihre kleine Johanne, von der sie nicht einmal wusste, wo sie begraben lag. Anschließend hatte sie erst der feierlichen Vesper, dann der Eucharistiefeier beigewohnt, um am Ende die Kommunion zu empfangen.
«Du siehst fast glücklich aus», sagte Patriz Seibold in diesemAugenblick und berührte flüchtig ihre Hand. «Wie ein anderer Mensch.»
«Ja.» Sie nickte. «Ich glaube, jetzt ist einiges im Reinen.»
Schweigend gingen sie weiter, Seite an Seite. Theres hatte sich daran gewöhnt, dass um sie und Patriz Seibold herum stets eine ganze Pilgerschar marschierte, dass sie keine Sekunde lang auf dieser Wallfahrt allein gewesen war. Sogar das Bett nachts in den Herbergen hatte sie mit Käthe oder Pauline geteilt, und wenn sie dann einmal erwachte, knieten jedes Mal zwei, drei Weissenauer an ihrem Bettrand und beteten.
Die Woche zuvor, bei ihrer Wanderung auf die Alb, waren es noch viel mehr Menschen gewesen. Jedes Mal, wenn Theres daran zurückdachte, schüttelte sie innerlich verwundert den Kopf. Hunderte von Gläubigen hatten sich an jenem Morgen bei Sonnenaufgang vor Sankt Peter und Paul versammelt. Unter den Klängen der Weissenauer Musikkapelle war die Prozession losgezogen, und bis sie das Schussental hinter sich gelassen hatten, war der Strom auf weit über
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