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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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gebunden, ihre kleine Johanne, die weinend die Arme nach ihr ausstreckte.
    Sie alle redeten auf sie ein, in einem Schwall unverständlicher Worte, und bald schon hörte sie die Stimmen auch tagsüber, sie mischten sich unter die Gespräche und Gebete ihrer Besucher, bis sie sich irgendwann die Ohren zuhielt. Da endlich ergriff Pfarrer Seibold strenge Maßnahmen: Bis auf weiteres durfte niemand mehr seinen Schützling aufsuchen.
    «Wie ergeht es dir?», fragte er voller Sorge.
    «Ich weiß es nicht. Es ist alles so ein Durcheinander in mir.»
    «Kannst du mir sagen, was dich quält?»
    Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich wünschte sie sich nur noch eines: zu sterben. Ihr war, als stünde sie vor einem tiefschwarzen Abgrund, in den hineinzustürzen sie es fast drängte.
    Auch Pfarrer Seibolds Krankensalbung, als Sakrament der Stärkung und Aufrichtung, half nicht. Fortan ließen er und Käthe sie nicht mehr aus den Augen. Nachts musste Theres in der Kammer der Haushälterin schlafen, tagsüber lag sie stumm und ohne sich zu rühren auf ihrem Bett in der Stube. In die Kirche ging sie nicht mehr, denn allein der Gedanke an die Madonnadort ließ sie vor Angst zittern. So spendete ihr Seibold die Kommunion in der Stube.
    Dann kam der Tag des großen Oberschwäbischen Turnfestes drüben in Ravensburg. Im ganzen Umland hatten Alt und Jung freibekommen, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. Allein in Weissenau wagte keiner, sich auf den Weg zu machen. Pfarrer Seibold nämlich hatte angekündigt, einen weiteren Exorzismus vorzunehmen, und dieses neuerliche Glaubensereignis wollte niemand versäumen. Es war der erste Tag im Oktober, eine warme Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Theres hatte Seibold gebeten, die beiden Fenster der Stube kurz zu öffnen. Die frische Luft tat ihr gut, und sie wurde ruhiger. Von unten hörte sie das Gemurmel der Gemeindemitglieder, ganz deutlich irgendwann die Stimme von Pauline: «Wir alle sind bei dir, Theres.»
    Seibold rückte einen Stuhl neben ihr Bett und nahm ihre Hand.
    «Heute Nachmittag, Theres», sagte er leise und lächelte ihr aufmunternd zu.
    Sie schloss die Augen. Das Stimmengewirr vor dem Haus schwoll an, wieder hörte sie Pauline rufen: «Ich bin bei dir», mehrfach und immer lauter, dann aber wurde die Stimme tiefer und dumpfer, sie klang wie aus einem blechernen Eimer. Plötzlich schob sich ein fahles Gesicht mit glühenden Augen über ihr Bett, genau wie jenes damals auf dem Gottesacker, und eine behaarte Hand streckte sich ihr entgegen.
    «Komm mit. Das Fenster ist weit offen. Spring hinaus.»
    «Das darf ich nicht», presste sie hervor.
    «Spring! Dann hat alles ein Ende.»
    In diesem Augenblick öffnete sich die Stubentür, und die Mutter Gottes trat ein, im langen, hellblauen Gewand. Lautlos schwebte sie zum Kopfende ihres Bettes, legte ihr die Handauf die Schulter, die sich durch den Stoff ihres Nachthemdes angenehm warm anfühlte, und sagte freundlich: «Mein liebes Kind – was hast du vor?»
    «Ich soll springen, sagt er.»
    Da erhob die Mutter Gottes beide Arme und rief gegen die dunkle Gestalt: «Fort mit dir! Es soll dir schwer werden, gegen das Wort Gottes zu handeln.» Und der Böse verschwand mitten durch die holzgetäfelte Zimmerdecke.
    Als Theres wieder zu sich kam, umstanden Käthe, Pauline und Pfarrer Seibold das Bett.
    «Er ist weg», flüsterte Theres. «Die Mutter Gottes war bei mir. Sie hat ihn vertrieben.»
    Sichtlich ergriffen nahm Seibold ihre Hand, und Pauline fiel auf die Knie.
    «Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade» ,
begann sie zu schluchzen, und die beiden anderen fielen in ihr Gebet ein. Nachdem der Pfarrer Theres’ Hände und Stirn mit Krankenöl gesalbt hatte, fiel sie in unruhigen Schlaf. Da erschien ihr die Heilige Maria erneut und offenbarte ihr in klaren Worten, was sie zu tun habe, damit in ihre Seele endlich Frieden einziehen könne.
     
    Zwei Tage später, am Tag des Rosenkranzfestes, verkündete Patriz Seibold seiner Gemeinde in der Sonntagsmesse von der besonderen Gnade, die Theres zuteil geworden war: Zweimal hintereinander sei ihr die Mutter Gottes erschienen. Beim ersten Mal habe sie Theres dem Dämon entrissen, beim zweiten Mal ihr einen bedeutsamen Auftrag erteilt.
    Das Kirchenschiff konnte die vielen Besucher kaum fassen. Aus allen Weilern und Dörfern der Umgebung waren die Menschen herbeigeströmt, selbst die Schweizer Arbeiter aus Erpfs Fabrik. Dank Paulines Schwatzhaftigkeit hatten sie alle gehörtvon Theres’

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