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Die Bettelprophetin

Die Bettelprophetin

Titel: Die Bettelprophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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selbst, und Fleisch und Süßspeisen erhielten sie auch weitaus häufiger – in ihrem eigenen Speisesaal, wohlgemerkt.
    Über all das konnte sich Sophie furchtbar erregen, doch Theres focht dies überhaupt nicht an. Waren die Waisenkinder doch ebenso eingesperrt wie sie selbst, und das war hier in Weingarten das Allerschlimmste. Die Arbeit im Freien hatte sich im Übrigen, von der täglichen Fütterung und Pflege der Seidenraupen abgesehen, als Ausnahme herausgestellt. In der Regel verbrachten die Mädchen den Nachmittag bei Lehrfrau Wagner, um Baumwolle zu verspinnen oder Strümpfe zu stricken oder gar, was Theres am meisten verhasst war, um die Kokons der Seidenraupen abzuhaspeln; die Knaben mussten zu Industrielehrer Schlipf in die Arbeitsstube, um Stroh zu flechten oder Papier zu Pappen zu kleben.
    Dabei hatten die Buben noch häufiger Schulunterricht als sie, die Mädchen, die neben der vormittäglichen Handarbeitsstunde zusätzlich Küchen-, Flick- und Putzdienste verrichten mussten. Kein Wunder, dass ein Großteil der Jungen bereits mit Federkiel und Tinte schreiben durfte.
    Nach wenigen Tagen wusste Theres auch über das Hauspersonal Bescheid: Ganz oben, an der Spitze sowohl des Hauptinstituts als auch der Vagantenkinderanstalt, herrschte als königlicher Staatsbeamter der Oberinspektor und Hausgeistliche Christian Heinrich Fritz. Ebenfalls im Rang eines Staatsbeamten stand sein Stellvertreter, der Ökonomieverwalter WilhelmLudwig Heintz, wie der dicke Fritz ein Reingeschmeckter aus der Stuttgarter Gegend und evangelisch gläubig. Die beiden Beamten lebten mit ihren Familien in Amtswohnungen jenseits der Kirche im sonnigen Südflügel des Klosters, wo es zum Garten hinausging. Die Familienangehörigen allerdings bekamen die Schüler nie zu Gesicht, ebenso wenig wie den Verwalter selbst, der wohl mehr Kaufmann als Anstaltsleiter war. Oberinspektor Fritz hingegen erteilte in seiner Eigenschaft als Pfarrer und Religionslehrer die regelmäßigen katechetischen Übungen und Bibelstunden.
    Lehrer Löblich war, wie Theres erfuhr, lediglich Hilfslehrer und von den Kindern als unberechenbar gefürchtet. «Marder» nannten sie ihn, seines schmalen Gesichts und seiner spitzen Zähne wegen und weil er von jetzt auf nachher zubeißen konnte wie ein Marder.
    Neben den Beamten und Pädagogen, den Lehrfrauen und dem Wundarzt gab es noch eine ganze Schar von Gesinde, wobei für die Vagantenkinder die Hausmagd Susanna, eine alles in allem recht gutmütige Frau, und der einäugige, gestrenge Hausknecht Urban zuständig waren.
    «Was ist mit dem seinem Aug?», hatte Theres ihre Freundin gefragt.
    «Das hat er im Krieg gelassen, in Russland. Aber er sieht trotzdem mehr als jeder andre – nimm dich lieber in Acht vor dem!»
    Sofort sah Theres das Bild vor sich, wie auf einem mit Schnee und Eis bedecktem Schlachtfeld, inmitten von Leichen und abgeschlagenen Gliedmaßen, ein einsames Auge lag, und gruselte sich nur noch mehr vor dem Knecht.
    Neben Lehrer Löblich und Lehrfrau Wagner hatten auch die Magd und der Knecht ihre Kammern dicht bei den Schlafsälen. Für Theres war dies eine gewisse Beruhigung zu wissen,denn sie hatte sich am dritten Tag schon geweigert, weiterhin Rosinas Kehrwoche zu übernehmen.
    «Wirst schon noch sehen, was dir blüht», hatte die ihr gedroht, aber Theres beruhigte sich damit, dass sie zumindest des Nachts ihre Ruhe vor der Stubenältesten haben würde. Nach und nach allerdings begann sie die alte Wagnerin, die für ihre Rutenstreiche berüchtigt war, und Lehrer Löblich noch mehr zu fürchten als Rosina.
    In dessen Unterricht wurde sie in der ersten Woche so gut wie nie aufgerufen, dafür mehrfach mit seinem beißenden Spott vor der Klasse lächerlich gemacht. Noch einer schien Luft für den Hilfslehrer zu sein: Urle, der Zwerg. Und das, obwohl Urle lesen, schreiben und rechnen konnte wie kaum ein andrer. Stumm hockte er in seiner Bank, zumeist irgendwie verträumt, als sei er ganz woanders. Manchmal aber, wenn Löblich ihm den Rücken zukehrte, äffte er den Lehrer so verblüffend genau nach, dass jeder an sich halten musste, nicht laut loszulachen. Dennoch wurde er von den anderen Jungen gemieden. Umso mehr verblüffte es Theres, dass er in der Schulstunde neben Jodok, dem Anführer der Buben, saß.
    «Ist der Jodok dein Freund?», hatte sie ihn einmal gefragt, als sie beide nachsitzen mussten und Löblich sie für einen Augenblick allein gelassen hatte. Für Theres galt die Strafe, weil ihre

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