Die Bettelprophetin
Beziehungen eine geheime Korrespondenz mit Patriz Seibold aufrecht, erbat und empfing auf diesem Weg weitere Weisungen, wie sich der Kreis um den Voglerhof zu verhalten habe – vor allem jetzt, wo sich Polizeidiener und Landjäger die Nase draußen an den Festerscheiben plattdrückten, um sie zu beobachten. Aber das Schicksal des Pfarrers blieb deshalb nicht weniger ungewiss. Unablässig kreisten in diesen nasskalten Wintertagen Theres’ Gedanken um ihn, wenn sie nach der Arbeit in der behaglich geheizten Stube saß und ihn sich bei der Zwangsarbeit draußen im Forst oder in den eiskalten, zugigen Werkstätten vorstellte. Sie sah seine schlanken Hände, mit denen er immer so lebhaft seine Worte unterstrich, von der harten Arbeit rissig und wund werden, sah sein junggebliebenes Gesicht mit der kleinen gezackten Narbe über der Braue, wie es immer schmaler und blasser wurde und nicht mehr lächeln konnte.
Hinzu kam, dass böse Zungen neue Gerüchte in die Welt setzten: so etwa, dass nur deshalb so viele Ravensburger Bürgersmänner den Voglerhof aufsuchten, weil die Ludwig einen unerhört offenen Umgang mit Männern pflege. Dem Metzlerbauern stehe sie schon seit längerem zu Willen, vor den Augen von dessen armem Weib, und selbst dem Pfarrer habe sie von Anfang an den Kopf verdreht, bis der sich mit ihr eingelassen habe. Regelrecht hörig sei der dem Mädchen, nur so ließen sich seine Verblendung und seine Sturheit gegenüber den Kirchenoberen erklären. Dass er die Verpflichtung zum Zölibat nichternst nehme, wisse man ja spätestens seit damals, als er vor den Toren der Stadt mit seiner früheren Haushälterin Arm in Arm gesehen worden war. Vor allem dies hatte Theres einen mehr als schmerzhaften Stich versetzt.
Im Frühjahr schließlich übergab sie die Leitung der Andachten an Klementine Herb, die neben Madame Valier eine der eifrigsten Anhängerinnen ihres Kreises geworden war. Allzu häufig ertappte Theres sich inzwischen dabei, wie sie sich nicht aufs Gebet konzentrierte, sondern sich die wenigen Augenblicke, die sie allein mit Patriz Seibold verbracht hatte, ins Gedächtnis zurückrief. Vor allem den einen, an den zu denken sie sich bislang mit Erfolg verboten hatte.
Es war am letzten Abend auf ihrer Rückreise von Einsiedeln gewesen. Sie hatten am Schweizer Ufer des Sees gesessen und über den dunkler werdenden Wasserspiegel geblickt.
«Es ist schön, dass du wieder gesund bist», hatte er nach langem Schweigen gesagt.
«Dafür bin ich auch dankbar.»
Er hatte ein flaches Steinchen über das glatte Wasser hüpfen lassen. Theres hatte mitgezählt: Siebenmal sprang es über die Fläche, bis es unterging. Dann wandte er ihr sein Gesicht zu. Es wirkte ungewohnt ernst.
«Auch ich bin dankbar. Dass Gott, bei alldem, was du erlebt hast, immer schützend seine Hand über dich gehalten hat.»
Sie wich seinem Blick aus.
«Aber – aber warum hat er nur mich beschützt?» Sie stockte. «Warum nicht meine Tochter, die nicht einmal drei Jahre alt werden durfte? Warum nicht den armen Urle, der nie so was wie Glück erfahren durfte? Warum macht Gott diese Unterschiede? Warum lässt er Kriege und Seuchen zu und lässt so viele qualvoll sterben, die gar nicht sterben wollen?»
«So darfst du es nicht sehen. Auch Urle hatte Glück erfahren,indem er dich getroffen hat. Und vergiss nicht: Urle und dein Kind haben ihre Ruhe an Gottes Seite gefunden, in der Herrlichkeit seines Himmelreichs.»
Sie zog sich ihren Umhang fester um die Schultern. So etwas wie Trotz stieg in ihr auf.
«Ist es nicht eher so, dass der Mensch es sich zurechtlegt, wie er es grad braucht? Bleibt einer am Leben, ist man dankbar für Gottes schützende Hand, stirbt einer, soll man dankbar sein für den Eingang ins Himmelreich.»
«Beides hat seine Berechtigung. Und was dich betrifft: Vielleicht hattest du ja noch eine Aufgabe zu erfüllen. Nämlich dein Kind zu bekommen, noch einmal deiner Mutter zu begegnen, all diesen armen Menschen hier in unserm Dorf Hoffnung zu geben. Oder auch nur –» Er zögerte, seine Stimme war leiser geworden. «Oder auch nur, mir zu begegnen.»
Dabei hatte er den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen, und als ihr, ganz gegen ihren Willen, die Tränen kamen, hatte er sie ihr zärtlich von der Wange gestrichen. Bevor er im nächsten Augenblick aufsprang, hatte sie noch gesehen, dass auch er Tränen in den Augen gehabt hatte.
Diese zarte Berührung brannte jetzt, fast ein halbes Jahr später, bei
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