Die Bettelprophetin
vermisste.
Einmal hatte sie ihm sogar geschrieben, hatte dem Kaufmann Valier ein Briefchen mitgegeben und darin um Rat gebeten. Aber es war niemals eine Antwort gekommen, und sie hatte inzwischen den Verdacht, dass der Kaufmann ihr Schreiben gelesen und anschließend vernichtet hatte.
So ging es ihr in diesen Wochen zunehmend schlecht. Nachts kehrten ihre Albträume zurück, tags versank sie in Grübeleien oder schreckte auf, weil sie plötzlich Patriz Seibold vor sich sah, krank und mutlos, und sie wurde schier verrückt vor Sorge um ihn. Einmal war dieses Bild ganz deutlich gewesen, und sie hatte den Fehler begangen, Pauline davon zu erzählen.
«Was ist mit dir? Warum bist du so leichenblass?», hatte sie Theres gefragt.
«Ich weiß auch nicht – ich hab Angst um Pfarrer Seibold. Ich glaube, er ist krank.»
Als dann einige Zeit später über Kaufmann Valier bekannt wurde, dass Patriz Seibold eine heftige Attacke von Nervenfieber gerade eben noch überstanden habe, da hatte Pauline nichts anderes zu tun, als Theres’ Ahnung aller Welt als eine visionäre Erscheinung zu verkündigen. Im September dann zog nach tagelanger bleischwerer Schwüle ein Gewittersturm über das Hinterland des Sees, der Hagelkörner groß wie Walnüsse übers Land schleuderte. Laub und Früchte wurden von den Bäumen geschlagen und fast der gesamte Wein zerstört, der schon in prallen Trauben in den Rebstöcken gereift hatte. Für die Bauern bedeutete dieser Hagel eine neuerliche Katastrophe – nur die Obst- und Weingärten in Seibolds Pfarrgemeinde waren wiedurch eine geheimnisvolle Fügung vom Unwetter verschont geblieben. Aufgeklärte Köpfe nannten es Zufall, andere, tiefgläubige Menschen das «Wunder von Weissenau», das allein der jungen Theres Ludwig und ihrem Kreis zuzuschreiben sei.
Von nun an konnte die Stube des Voglerhofes die Menschenmenge nicht mehr fassen, und Matthis und sein Vater mussten die alte Scheuer herrichten für die Andachten und Betstunden. Die beiden Bürgersfrauen Herb und Valier überboten sich in ihrem Eifer, neue Anhänger zu gewinnen, und stießen dabei auf nicht wenige, die vorgaben, ebenfalls mit Visionen und Gesichten gesegnet zu sein, und dabei unermüdlich vor Kriegen, Hungersnöten und Seuchen warnten. Sogar eine Somnambule war darunter, die von jetzt auf nachher in Tiefschlaf fallen konnte und dabei zu Begegnungen mit Heiligen fand. Pauline hingegen war fortan besessen von dem Gedanken, den Weissenauer Blutritt wieder ins Leben zu rufen, Kerzen und Öl mit dem Heiligen Blut zu weihen und das Bildnis der Reliquie auf Türschlösser und Kuhglocken, auf Medaillen, Anstecker und Bildchen aufzutragen, um die heilbringende Kraft des Blutes zu jedem Gläubigen zu bringen.
Als die kirchliche und weltliche Obrigkeit im Herbst des Jahres 1849 zum endgültigen Gegenangriff gegen die Theresianer bliesen, hatte der Kreis eine tausendköpfige Anhängerschaft im ganzen Schussental, bis hinunter zum See.
Was Theres anfangs manchmal durchaus genossen hatte, nämlich im Mittelpunkt zu stehen, wurde ihr mehr und mehr zuwider. Wer sie wirklich war, wie es in ihrem Inneren aussah, interessierte niemanden hier, sie war zu einer Figur geworden, zu einem Abbild, auf das alle ihre Wünsche hefteten. Sie ertrug es kaum noch, wie die andern an ihren Lippen hingen, als sei sie vom Heiligen Geist beseelt, wie sie sie unablässig bedrängten,von ihren Marienerscheinungen und den Versuchungen durch den leibhaftigen Satan zu berichten. Vor allem Pauline, die nun ihrerseits von dämonischen Anwandlungen besessen schien.
Dazu kam, dass die Metzlerin ihr das Leben schwermachte. Bösen Blicken folgten bald abfällige Bemerkungen, bis es dann Anfang Oktober zum Eklat kam. Sie hatten die Apfelernte eingebracht, und Theres stand mit der Altbäuerin im Schuppen, um Most- und Lageräpfel zu sortieren.
«Wahrscheinlich hat der Bischof recht.» Mit erstaunlicher Kraft wuchtete die hagere Frau einen Korb rotwangiger Äpfel auf den Leiterwagen. «Hast das mit deinen Visionen alles erfunden, um dich hier vor den Leuten als Prophetin aufzuspielen.»
Theres sah sie erstaunt an. «Was willst du damit sagen?»
«Das weißt ganz genau.» Sie nahm einen leeren Korb vom Stapel.
«Du magst mich nicht, Else, gell? Ist es das?»
«Weißt, was ich glaub?» Else Metzlers Stimme wurde schrill. «Dass du eine Heuchlerin bist, eine Gotteslästerin. Dass du mit dem Leibhaftigen im Bunde bist. Weil nämlich – du hast meinen Alten verhext
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